Gestrandet im Nobelviertel

In Boadilla del Monte bei Madrid leben Einwanderer in Bretterbuden ohne Strom und fließendes Wasser, umgeben von Luxusvillen  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

Die Kartoffelstückchen fallen in den mit Wasser gefüllten Waschzuber. Yaime blickt kurz auf, bevor er sich daranmacht, weiterzuschnibbeln. „Im Winter ist es hier nicht zum Aushalten“, brummelt er vor sich hin. Sein Freund Mohammed rückt, wie um ihm beizupflichten, näher an den kleinen Ofen heran, der an eine Butangasflasche angeschlossen ist. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein alter Radiorekorder auf einer zusammengezimmerten Theke, aus den Lautsprechern dröhnt die Stimme einer marokkanischen Sängerin. Noch eine Stunde bis Sonnenuntergang und damit zur ersten Mahlzeit. Es ist Ramadan. „Wir kochen eine Harira.“ Beim Gedanken an die im Fastenmonat so typische Suppe zeichnet sich Vorfreude auf Yaimes Gesicht ab.

Die „Bar“ nennen sie hier den keine 15 Quadratmeter großen Bretterverschlag: Eine in den Boden gegossene Betonplatte, Balken aus dem Bauschutt, alte Türen, Europaletten und sonstige Holzabfälle, das Dach mit Plastikfolie abgedichtet und mit Steinen und Autoreifen beschwert, damit sie der Wind nicht wegweht – und fertig ist so eine Chabola, wie hier die Slumhütten heißen. Um die hundert drängen sich wenige Meter außerhalb des Dorfes Boadilla del Monte bei Madrid um einen alten gemauerten Brunnen, der einst der Bewässerung der Felder diente. Heute versorgt er die hier Lebenden mit seiner dreckigen Brühe. 400 marokkanische Immigranten trinken davon, kochen damit, waschen sich und ihre Kleidung. Elektrischen Strom gibt es nicht, der Fernseher der Bar funktioniert mit einem Dieselaggregat.

Yaime legt das Messer weg und führt die gefalteten Hände zum Gesicht. Er pustet hinein, um sie ein wenig aufzuwärmen. Seit zehn Jahren lebt er in Spanien, seit fünf Jahren im Slum. „Am Anfang ging alles gut, ich arbeitete auf dem Bau“, erzählt er. Doch Ende 1992 kam die Krise. Wie die meisten Immigranten gehörte auch Yaime zu denen, die als erste entlassen wurden. Er konnte die Wohnung nicht mehr halten und kam nach Boadilla del Monte. Jeden Morgen steht er, wie viele andere Marokkaner, bereits um fünf Uhr an der großen Kreuzung im Ort. „Wenn wir Glück haben, kommt irgend jemand vorbei und heuert uns für einen Tag an.“ Meist für kleine Bau- oder Gartenarbeiten in einem der umliegenden Dörfer in der Sierra – beste Wohnadresse für den gehobenen Mittelstand Madrids. 80 Mark gibt es für einen Zehnstundentag. Für eine Wohnung reicht das nicht, zumal Yaime einen Teil davon an seine Frau in Marokko überweist. Niemand lebt hier mit seiner Familie.

Die Tür zur Bar geht auf, der jüngste Neuzugang kommt herein: der 15jährige Joins. Er klopft seine Turnschuhe ab. Die wochenlangen Regenfälle haben die Gassen zwischen den Hütten zu einer einzigen Schlammpfütze verwandelt. Seit dem Sommer ist Joins hier, und er ist es leid. „Das Nichtstun macht mich verrückt“, beschreibt er sein neues Leben. Zur Schule geht er nicht mehr, Arbeit findet er noch seltener als seine erwachsenen Kollegen. Früher wohnte er mit seiner Mutter im Zentrum Madrids, jetzt ist er in der Hütte eines Onkels untergekommen. Was ihn hierhergetrieben hat, darüber spricht er nicht gerne. Er murmelt etwas von arbeitsloser Mutter und daß er selbst genug Probleme hat, um dann mit seinem Lieblingsthema – Hallenfußball – fortzufahren. Einmal in der Woche fährt er noch immer in seinen alten Stadtteil, wo er zehn Jahre gewohnt hat, um diesem Sport nachzugehen.

Yaime hat die letzte Kartoffel geschält. Auf dem Herd hinter der Theke dampft schon das Wasser. Er zeigt durch die halboffene Tür hinaus auf die gegenüberliegende Hügelkette. Dort haben Planierraupen das Gelände plattgeschoben, Randsteine deuten bereits die Straßen an. „Eine neue Villensiedlung für die Reichen aus der Hauptstadt“, weiß Yaime. Und das Programm für Sozialwohnungen, auf das nicht nur die Chabolistas gehofft haben, ist einmal mehr in den Schubladen verschwunden.