■ Seit kurzem benötigen Kinder aus Einwandererfamilien eine Aufenthaltsgenehmigung. Diese Regelung muß weg
: Fremde im eigenen Land

Seit Monaten steigt die Zahl der Kinder aus ehemaligen Anwerbestaaten, die von professionellen Banden in die Bundesrepublik eingeschleust werden, um hier einen – in der Regel aussichtslosen – Asylantrag zu stellen. Daß Innenminister Manfred Kanther dagegen vorgeht, ist nicht nur verständlich, sondern darüber hinaus im Interesse der betroffenen Kinder geradezu geboten: Schlepper sind Kriminelle, die mit der Not und dem Elend von Menschen Schindluder treiben und Geschäfte machen. Es ist ein schweres Versäumnis der Linken, daß sie diese Problematik bis heute weitgehend verdrängt und geleugnet hat.

Die am 15. Januar in Kraft getretene Verordnung beschränkt sich allerdings nicht auf die Einführung einer Visumpflicht für Kinder aus diesen Staaten, die erstmalig nach Deutschland einreisen. Künftig benötigen ausnahmslos alle in Deutschland lebenden Kinder mit türkischer, tunesischer oder ehemalig jugoslawischer Staatsangehörigkeit eine Aufenthaltsgenehmigung, selbst dann, wenn sie seit Jahren völlig legal hier leben oder sogar hier geboren sind. Betroffen sind rund 600.000 Kinder, auch diejenigen, die sich bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres ausschließlich in Deutschland aufhalten und weder zu Urlaubs- noch zu anderen Zwecken jemals ins europäische oder außereuropäische Ausland reisen. Stellen sie bis zum Jahresende keinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung – zum Beispiel aus Unkenntnis oder Nachlässigkeit –, werden sie illegal und machen sich unter Umständen strafbar. Allein in einer Stadt wie Köln müssen nun etwa 25.000 Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Kinder beantragt und erteilt werden.

Die Verordnung schießt damit weit über das eigentliche Ziel hinaus. Auch wenn in der Begründung betont wird, daß sich die materielle Rechtslage der Betroffenen durch sie nicht verschlechtern soll: Bei den ausländischen Kindern und ihren Eltern – die in den wenigsten Fällen juristisch vorgebildet sind – wird sie zu einer Verunsicherung und zu Ängsten führen. Sie kommt zudem zu einer Zeit, in der allerorten (nicht immer sachkundig!) über wachsende Ausländerkriminalität diskutiert wird und Forderungen nach einem erschwerten Zugang von Ausländern zum Arbeitsmarkt die Schlagzeilen beherrschen und die schwieriger werdenden wirtschaftlichen und sozalen Rahmenbedingungen zu zusätzlichen Problemen führen.

Obwohl kein ernstzunehmender Politiker das Aufenthalts- und Bleiberecht der zum Teil bereits seit Jahrzehnten friedlich und legal in Deutschland lebenden Ausländer in Frage stellt, stellt sich bei den Betroffenen ein Gefühl des Ausgegrenztseins und der Zurückweisung ein. Es entsteht der Eindruck, daß die eigene Anwesenheit in Deutschland allenfalls geduldet, nicht aber gewollt ist.

Gerade Kinder im Alter von 16 Jahren empfinden dies besonders schmerzlich. Die meisten von ihnen sind hier geboren oder im Säuglingsalter hierhergekommen. Sie wurden nicht gefragt und sie hatten keine Wahl: Deutschland ist ihr Heimatland, dem sie sich zugehörig und in dem sie sich zu Hause fühlen. Sie gehen mit gleichaltrigen jungen Deutschen gemeinsam zur Schule und sind im selben Sportverein aktiv. Nunmehr fühlen sie sich zunehmend als Fremde im eigenen Land.

Diese Entwicklung ist integrationspolitisch verheerend. Untersuchungen zeigen, daß viele Angehörige der dritten Ausländergeneration heute weniger in unsere Gesellschaft integriert sind als die Generation ihrer Eltern. Sie ziehen sich zunehmend auf traditionelle Werte zurück und werden anfällig für religiöse und politische Extremisten. Es wäre naiv, eine bestimmte administrative Maßnahme, wie zum Beispiel die vorliegende Verordnung, allein für diese Entwicklung, die vielfältige Ursachen hat, verantwortlich zu machen. Aber sie liefert den Integrationsgegnern unter den Ausländern willkommene Munition und läßt sich trefflich für Stimmungsmache mißbrauchen. Der schleichende Prozeß der Entfremdung wird durch die Verordnung nicht aufgehalten, sondern beschleunigt. Daß die Verordnung ohne jede Diskussion in der Fraktion der Partei erlassen wurde, ist ärgerlich und schmerzhaft. Auch wenn es sich „nur“ um eine Rechtsverordnung handelt, so ist ihre politische Wirkung dennoch enorm.

Die an sich richtige Politik der Begrenzung des unkontrollierten Zuzugs von außen muß daher dringend ergänzt werden durch ein eindeutiges, klares und mutiges Signal an die in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger, daß ihre Integration in unsere Gesellschaft gewollt und aktiv unterstützt wird. Wir brauchen zum Beispiel endlich ein zeitgemäßes Staatsangehörigkeitsrecht, das Fristen verkürzt, bürokratische Hindernisse abbaut, vor allem aber den hier geborenen Kindern den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit der Geburt ermöglicht. Nur so kann der soziale Sprengstoff entschärft werden, der sich seit Jahren angesammelt hat.

Der Fehler der Vergangenheit lag darin, daß die Diskussion über Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht als Angelegenheit der Innen- und Rechtspolitiker galt. Sie ist aber eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, vergleichbar nur den Fragen von Ökologie und Standortsicherung. Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt entscheidend davon ab, wie wir mit dem Problem der Integration umgehen und es lösen. Während sich die Diskussionen hierüber endlos hinziehen, werden in Deutschland jährlich 100.000 ausländische Kinder neu geboren, beträgt in einer Stadt wie Frankfurt der Ausländeranteil bei den unter 20jährigen inzwischen über 45 Prozent.

Die Zeit drängt, nicht nur weil die Zeit für Gesetzgebungsvorhaben bis zur nächsten Bundestagswahl langsam knapp wird. Für das gesellschaftliche Gelingen der Integration wird es entscheidend sein, daß die Union deutlich macht, daß sie die notwendigen Reformen von sich aus will, daß sie ihr nicht von anderen Parteien aufgezwungen werden. Die innerparteilichen Diskussionen der letzten Monate über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts waren ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Auch deshalb ist die nun erfolgte Einführung einer Aufenthaltsgenehmigungspflicht das falsche Signal. Es ist ein Gebot der politischen Vernunft, den problematischen Teil der Verordnung umgehend zurückzunehmen. Aber sie bietet auch die Chance, die Diskussion über eines der wichtigsten gesellschaftlichen Reformvorhaben neu zu beleben und zu einem guten Abschluß zu führen. Peter Altmaier