Eine Prozession als Demonstration

300.000 Menschen nehmen an einer Prozession der orthodoxen Kirche in Belgrad teil. Die serbische Nationalkirche schützt die Demonstranten und geht weiter auf Distanz zum Regime  ■ Von Erich Rathfelder

Patriarch Pavle führte gestern die Prozession der orthodoxen Kirche Serbiens zu Ehren des Heiligen Sava an. Die Prozession hatte die Polizei veranlaßt, die Blockade der Innenstadt zumindest für einen Tag aufzuheben. Die Studenten feierten den Rückzug der Miliz schon in den frühen Morgenstunden. Mit der Wahl der Route vom Zentrum aus zum Vracar-Hügel nahm die orthodoxe Kirche auch eine Schutzfunktion gegenüber den Demonstranten wahr. Schon seit Wochen hat Patriarch Pavle zu erkennen gegeben, daß die Kirche das Regime Miloševićs nicht mehr bedingungslos unterstützen würde, wie dies noch vor einiger Zeit der Fall war. Ende der achtziger Jahre waren sogar Ikonen des kommunistischen Präsidenten in den Kirchen aufgehängt worden.

Die serbische orthodoxe Kirche beging gestern den Ehrentag des Heiligen Sava, der 1219 die serbische Kirche autokephal gemacht hat. Ab diesem Zeitpunkt durfte sie die serbischen Könige krönen und wurde damit gleichberechtigt mit dem Partriarchat in Konstantinopel. Sie stieg durch den Heiligen Sava zur Nationalkirche auf. Gerade während der über 500 Jahre währenden osmanischen Besatzung war es die Kirchenhierarchie, der es gelang, den orthodoxen Glauben und damit die serbische Nation am Leben zu erhalten.

Die Kirche des Heiligen Sava in Belgrad ist mit einer Höhe von 80 Meter und einem 12.000 Menschen fassenden Innenraum die größte orthodoxe Basilika der Welt geworden. Ihr Bau ist ein Zeichen für den Wunsch, an die glorreichen Zeiten des serbischen Hochmittelalters, als das serbische Reich in höchster Blüte stand, anzuknüpfen. Die kleinserbische Kirche hat sich während der osmanischen Zeit gegenüber dem Islam und dem Katholizismus behaupten können. Das Osmanische Reich erwies sich, was die Religionen betrifft, als relativ milde Herrschaft. Die orthodoxe Kirche wurde sogar von der Hohen Pforte gegenüber dem Katholizismus vorgezogen. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1918 ging die orthodoxe Kirche dennoch auf Abstand zu den beiden anderen Religionen.

Von nun an wurde der Islam, der sich unter den Albanern und unter der slawischen Bevölkerung des südwestlich Belgrads liegenden Sandzaks sowie in Bosnien ausgebreitet hatte, als Bedrohung des eigenen Glaubens und der serbischen Nation angesehen. Seither warnen orthodoxe Kirchenfürsten vor dem „grünen Gürtel“ des Islam, der sich von Albanien über den Kosovo und Sandzak bis nach Bosnien zieht. Auch der Katholizismus als die „Religion des Westens“ wird von der byzanthinischen Tradition als Bedrohung empfunden.

Während des jüngsten Krieges wurde diese Grundhaltung von den serbischen Nationalisten aufgegriffen. Die serbische Nation könne nur dann überleben, wenn die konkurrierenden Kirchen zerschlagen würden, lautet die Schlußfolgerung der Nationalisten. Die Folge ist, daß in den von Serben besetzten Gebieten Bosniens und Kroatiens keine einzige Moschee oder katholische Kirche mehr steht. Über 900 Kultstätten des Islam und der Katholiken sowie einige katholische Klöster wurden allein in Bosnien oftmals mit Hilfe von orthodoxen Geistlichen dem Erdboden gleichgemacht. Demgegenüber sind die meisten orthodoxen Kirchen vor allem in den von Muslimen kontrollierten Gebieten Bosniens trotz des Krieges unzerstört geblieben. Auch innerhalb der Orthodoxie hat die serbische Kirche einen aggressiven Kurs entwickelt. Dabei sind ihre Ziele deckungsgleich mit den Grundlinien der serbisch-nationalistischen Politik. So ist das Verhältnis zur griechischen Kirche herzlich, zur bulgarischen gespannt. Ähnlich gelagert sind die politischen Beziehungen zu diesen Ländern. Die montenegrinische Kirche konnte sich trotz diesbezüglicher Bestrebungen nicht von der Oberherrschaft der serbischen Kirche befreien – so wie eine knappe Mehrheit der Bevökerung in der Republik Montenegro politisch die Vorherrschaft Serbiens anerkennt. Dagegen ist das Verhältnis der serbischen Kirche gegenüber der mazedonischen höchst gespannt, da diese sich mit Hilfe Titos 1958 aus ihrem Klammergriff lösen konnte und selbst autokephal geworden ist. Die mazedonischen Bischöfe sind bis heute mit dem serbischen Kirchenbann belegt. Auch die mazedonische Gesellschaft revoltierte gegen den serbischen Hegemonieanspruch.

Und noch etwas ist zu beachten: Die orthodoxen Kirchen in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien sind Teil der Kirche Serbiens. Und damit sind die Serben dieser Republiken im Verständnis der Kirche Teil der serbischen Nation. Die Position der Kirche deckt sich auch an diesem Punkt mit den Zielen der großserbischen Nationalisten. In bezug auf Milošević hat sie wohl erkannt, daß sie länger existieren wird als der kommunistische Aparatschik auf dem Präsidentenstuhl.