„Solange das Öl kommt, müssen wir hier sein“

Ohne Hilfe von Regierung und Konzernen wehren sich 16 Millionen Japaner an ihrer Küste gegen eine auch international unterschätzte Ölpest. Erst wenn die 15 Atomreaktoren vor Ort ausfallen, wird Tokio aufwachen  ■ Aus Fukui Georg Blume

Fumio Hashimoto wäre eigentlich lieber mit ihren zwei Kindern in die Bibliothek gegangen. Statt dessen hockt die zierliche Städterin erschöpft auf einer Strandtonne im Dorfflecken Ichihata und starrt angewidert auf das grün-braun gescheckte Meer. „Wie sieht das Öl denn aus? Können wir im Sommer in Ichihata noch schwimmen gehen?“ hatten die Kinder, Tetsuaki und Yuki, ihre Mutter gefragt. Daraufhin hatte Fumio, 35, ihre blaue Seemannskluft angelegt, den grünen Plastikeimer aus der Waschküche herbeigeholt und die rote Gartenschaufel eingepackt. So zog sie mit tausend anderen Freiwilligen aus der Provinzstadt Tsuruga am Japanischen Meer in den Kampf gegen die Ölpest und eine schäumende See.

Später verraten nur noch die geschminkten Augenlider Fumios Angestelltenstatus in einer großen Firma. Ihre Kleider sind von Kopf bis Fuß ölverkleistert, ihr Atemschutz ist braunbefleckt. Eimer und Schaufel überzieht ein dicker Ölfilm. „Ich bin jetzt beim fünften Eimer, aber das Resultat läßt auf sich warten“, stöhnt Fumio.

Trotz des stundenlangen Einsatzes von zweihundert Freiwilligen, trotz der drei Dutzend Fässer Ölschlick, die die Lastwagen am Abend abtransportieren, wird der Badestrand von Ichihata am Montag nicht wieder gelb. Zentnerschwere Bündel aus Algen und gehärtetem Öl, die sich von Hand kaum bewegen lassen, haben die Dorfbucht in eine braune Teerstraße verwandelt, über der eine tosende Brandung mit jeder Welle neues Öl vergießt. Etwas hilflos stehen die Freiwilligen mit ihrem Gartenwerkzeug vor der natürlichen Übermacht.

Doch Fumio will nicht aufgeben: „Unsere Badeferien sind in Gefahr und unsere Kinder traurig. Solange das Öl kommt, müssen wir hier sein und dürfen die Dorfleute nicht allein lassen.“ Die Angestellte beschließt am nächten Tag wiederzukommen, wenn es Firma und Kinder erlauben.

Solches Engagement im Zeichen von Japans bislang folgenschwerster Ölkatastrophe ist keine Selbstverständlichkeit. Seit am 2. Januar der russische Tanker Nachodka im Sturmwetter auf dem Japanischen Meer aus bislang ungeklärten Gründen in zwei Stücke zerbrach, übt sich nicht nur das offizielle Japan in äußerster Zurückhaltung. „Wir haben derzeit unglücklicherweise andere Prioritäten, als uns um die Ölpest zu kümmern“, erklärt ein Sprecher des immerhin mit zehn hauptamtlichen Angestellten besetzten Greenpeace-Büros in Tokio und verweist höflich an einen Tankerexperten in London.

Verendete Tiere als Wachrüttler fehlen

Auf die Idee, sich die Ölpest vor Ort einmal anzuschauen, sind die Greenpeacer bisher ebensowenig gekommen wie der japanische Premierminister. Das hat wohl mit dem ausgebliebenen Medienspektakel zu tun. Da das Meer außer Öl und Algen bisher nur den ertrunkenen russischen Kapitän der Nachodka und einen toten Delphin an Land warf, fehlen in Japan so eingängige Katastrophenbilder, wie sie etwa das Seeotter-Sterben nach der Havarie des Esso-Tankers Exxon Valdez im März 1989 vor der Küste Alaskas lieferte. So fallen diesmal auch CNN und BBC als Wachrüttler aus. Unter den westlichen Berichterstattern war ARD-Korrespondent Robert Hetkämper der letzte, der vor Ort Ölluft schnupperte. Das Mediengesetz „Ohne Tiersterben keine Ölkatastrophe“ kommt die Anrainer des Japanischen Meeres teuer zu stehen. Der Zusammenbruch der dortigen Fischereiindustrie und des Tourismusgeschäfts werden in den Tokioter Zeitungen nur noch kurz vermeldet, während sich Regierungspolitiker – von den Medien nicht unter Druck gesetzt – bereits öffentlich gegen Kompensationsforderungen wehren.

Kaum einer realisiert, daß die Ölpest regional bedeutsamen Wirtschaftszweigen, die pro Jahr mehrere Milliarden Mark umsetzen und viele tausend Beschäftigte zählen, den Garaus zu machen droht. Darin aber liegt das politisch Paradoxe des Öl-Desasters: Zum ersten Mal sind Menschen die sichtbar Hauptbetroffenen eines Tankerunglücks – doch gerade das will die Öffentlichkeit nicht interessieren.

Währenddessen wird die Lage am Japanischen Meer täglich dramatischer. Immer neues Öl spuckt aus dem Wrack der Nachodka, deren Rumpf in 2.000 Meter Tiefe auf Grund liegt. Schon sind neun Präfekturen mitsamt eines 500 Kilometer langen Küstenstreifens von der Seuche betroffen. Trotzdem die Namen der betroffenen Gebiete von Tottori über Fukui bis Yamagata auch für japanische Ohren nach tiefer Provinz klingen, leben in der Region 16 Millionen Menschen. Bei den bisher einprägsamsten Tankerunfällen wie dem Schiffbruch in Alaska und dem Riffunglück der Braer vor den Shetland-Inseln (1993) wohnten jeweils nur wenige tausend Menschen in Reichweite des Unglücks. Ähnliches gilt auch für die bislang größte Ölpest während des Golfkriegs im Persischen Golf (1991), als das schwarze Gold zumeist auf leere Wüstenstrände schwappte.

Ohne Selbsthilfe würde die Ölpest zur Normalität

Die Nähe der Massenzivilisation gibt der japanischen Katastrophe ihren besonderen Charakter: In den vergangenen Tagen sind zwischen Fukui im Süden und Niigata im Norden nach Angaben einer Freiwilligen-Koordinationsstelle über 50.000 Helfer im Einsatz gewesen. Statt sich die Ölpest nur im Fernsehen anzuschauen, greifen die Bürger lieber selbst zu Schaufeln und Gummihandschuhen. Fischereikooperativen und Gewerkschaften koordinieren den Einsatz, Reiseunternehmen organisieren kostenlos den Transport der Freiwilligen, Bauunternehmen springen mit Baggern und Lastwagen ein. Fassungslos sehen die Politiker in Tokio, wie die Bevölkerung zur Selbsthilfe greift, da sie von niemandem mehr Hilfe erwartet.

„Wenn wir nicht reagiert hätten, wäre die Ölpest zur Normalität geworden. Davor hätte ich große Angst gehabt“, erklärt Muneaki Murai, Freiwilligen-Koordinator in Fukui, sein Engagement. Leitbild für den 23jährigen waren die Selbsthilfeversuche nach den großen Erdbeben in Kobe vor zwei Jahren. Auch damals versagte die Politik, und die Bürger hatten keine andere Wahl, als sich gegenseitig zu helfen.

Masanori Tanimoto, dem Gouverneur der Präfektur Ishikawa, will die eigene Hilflosigkeit nicht in den Kopf gehen: „Warum können wir nur Steine putzen? Warum kann unsere Hochtechnologie nichts ausrichten?“ empört sich der Politiker. Doch selbst nach Expertenmeinung bleibt den verseuchten Regionen derzeit keine andere Wahl, als das mühselige Reinigungswerk an Stränden und Hafenmauern. Weder chemische Mittel noch das Absaugen von Öl auf hoher See können in diesem fortgeschrittenen Stadium der Verseuchung weiterhelfen.

„Wenn alle 19.000 Tonnen Öl, die der russische Tanker geladen hatte, ins Meer fließen, sind wir verloren. Es wird dann Jahre dauern, bis wir unsere Krebse und Muscheln wieder verkaufen können“, fürchtet Kinji Shimizu, Bürgermeister des ölverschmutzten Küstenstädtchens Konomura. Bisher hat die Nachodka erst 5.000 Tonnen des schwarzen Goldes freigelassen. Das reichte indessen aus, um das der Brandung zugewandte Rathaus von Konomura bis zur zweiten Etage in tiefes Braun zu tunken. Drei Tage dauerten anschließend die Putzarbeiten an den Außenwänden.

Ironischerweise ist gerade Konomura ein Ort mit ausgeprägtem Umweltbewußtsein. Bürgermeister Shimizu zeigt über die ölverdreckte Bucht hinüber zum nahegelegenen Plutoniumreaktor Monju, Japans erstem industriellen Schnellbrüter, in dem sich vor 13 Monaten ein schwerer Unfall ereignete. „Vor zwei Jahren blieben die Gäste wegen dem Erdbeben in Kobe aus. Vor einem Jahr hielt sie die Angst vor dem Monju- Unfall fern und jetzt die Ölpest. Dabei haben wir ausgerechnet im Winter Krebssaison“, lamentiert der Bürgermeister. Tatsächlich haben in Shimizus japanischer Fremdenherberge am Abend alle Gäste abgesagt.

Eine Herbergsangestellte aber sinnt auf Rache: Sie hofft, daß die Ölzäune, die derzeit um die fünfzehn laufenden Atommeiler der verseuchten Küste gelegt sind, nicht ausreichen werden, um die Ölflut vom Kühlwasser der Reaktoren zu trennen. Wenn dann die Reaktoren ihre Leistung drosseln müssen und in Osaka und Tokio die Lichter ausgehen, werde auch das übrige Japan von der Ölpest Kenntnis nehmen.