Fleischanteile zur Erforschung von Tradition

■ Der Saxophonist Archie Shepp zwischen Free Jazz und der Musik des Volkes

Dieses Jahr wird er 60 und kann auf eine über vierzigjährige Karriere zurückblicken. Aber es ist nur ein Bruchteil dieser Zeit, weniger als ein Viertel, der ihm seinen Eintrag in den Jazz-Annalen sichert: Archie Shepp wird auf ewig als eine der führenden Figuren des Free Jazz angesehen werden – auch wenn er seit vielen Jahren ganz andere Sachen spielt. Aber damals, vor 35 Jahren, gehörte er, zunächst in der Band von Cecil Taylor, dann bei John Coltrane und auf dessen Vermittlung hin schließlich auch auf Platten unter eigenem Namen, zu jener Speerspitze, die den Jazz von seinen letzten Fesseln befreien wollte. Dabei wurden teilweise erschlagend-brillante Resultate erzielt, etwa Shepps Alben Mama Too Tight und Fire Music.

Dennoch bedeutete Free Jazz auch sowas wie einen Schlußpunkt in der linearen Vorwärtsentwicklung des Jazz. Danach verlor sich das Genre zunächst in Virtuosentum und Fusionsangeboten an jedes willige Fremdgenre. Doch während sich der „Freie Jazz“ zu einem klar definierten Stil festigte, war Shepp schon wieder ganz woanders. „Wir müssen die Musik des Volkes spielen, sonst sind wir nichts als bourgeoise Snobs“, verkündete er und besann sich auf seine Lehrjahre in Rhythm&Blues-Bands.

Sein erdiger Südstaatensound, der schon seinen freien Arbeiten einen gehörigen Fleischanteil verlieh, kam ihm dabei genauso zugute wie auf späteren Platten, die der Ausforschung der Tradition gewidmet waren. Aus dieser Zeit stammt sein Statement: „Ich bin schlimmer als ein Romantiker, ich bin ein Sentimentalist.“

Seit Anfang der 70er feiert Shepp auch Erfolge als Bühnenautor, seit 1975 lehrt er an der Universität von Massachusetts Geschichte der Schwarzen Musik. Von den existenziellen Sorgen so vieler Kollegen ist er also nicht geplagt. Entsprechend selten findet man ihn an den Fleischtöpfen Europas. Sein Konzert in der Fabrik sollte man jedoch nicht nur deswegen besuchen. Vielmehr kann man in Shepp einen ausgezeichneten Saxophonisten erleben, der nunmehr seit vielen Jahren in aller Gelassenheit seiner musikalischen Vision nachforschen kann und dabei immer wieder exzellente Musik produziert.

Detlef Diederichsen Mi, 5. Februar, 21 Uhr, Fabrik