2 Kammern, 1 Saal, 500.000 Opfer

Seit einigen Wochen läuft vor dem UN-Tribunal zum Völkermord in Ruanda der erste Prozeß. Das verschlafene Gericht in der ostafrikanischen Savanne hat noch viel zu tun, wenn es den Genozid gebührend ahnden will  ■ Aus Arusha Andrea König

Der nächste Zeuge der Anklage wird eingeschworen. Laity Kama, Präsident des UN-Tribunals für Ruanda, sagt dem Zeugen „Z“: „Reden Sie frei, haben Sie keine Angst, aber versuchen Sie, Ihre Aussage möglichst emotionslos und ohne Haß zu machen.“ Dann beginnt die Befragung. Eine Aussage mehr gegen Jean-Paul Akayesu, den ehemaligen Bürgermeister der Gemeinde Taba in Ruanda.

„Zeuge ,Z‘, wo leben Sie?“

„In Taba.“

„Seit wann?“

„Ich bin in Taba geboren.“

„Besaßen Sie je eine Identitätskarte?“

„Ja.“

„War in Ihrer Identitätskarte je eine ethnische Zugehörigkeit eingetragen?“

„Ja – Tutsi.“

„Kennen Sie einen gewissen Jean-Paul Akayesu?“

„Ja.“

„Wie lange schon kennen Sie ihn?“

„Seit meiner Kindheit, seit der Schule.“

„Ist Jean-Paul Akayesu in diesem Saal anwesend? Würden Sie bitte auf ihn zeigen?“

Zeuge „Z“ zeigt mit dem Finger auf den Angeklagten.

„Können Sie uns beschreiben, was Akayesu trägt?“

„Es scheint mir, als ob er einen grauen Pullover trüge.“

Der Zeuge spricht Kinyarwanda. Eine Dolmetscherin übersetzt auf französisch. Diese Übersetzung wird dann von einer weiteren Übersetzerin auf englisch übersetzt, denn die Mitarbeiter der Anklage sprechen mehrheitlich englisch.

Zeuge „Z“ schildert die Vorgänge in Taba zu Beginn des ruandischen Völkermordes im April 1994. Er bestätigt, daß die Lage in Taba zunächst ruhig war, bis zum 18. April, als anderswo im Land längst die Massaker begonnen hatten. Zunächst habe sich der Bürgermeister gegen Übergriffe radikaler Hutu auf Tutsi gewehrt. Erst als ein Lehrer von einem extremistischen Hutu umgebracht worden sei, habe sich alles verändert. Die Bevölkerung habe den Hutu umbringen wollen. Da sei der Bürgermeister eingeschritten und habe die Bevölkerung geheißen, die extremistische Hutu-Miliz „Interahamwe“ zu unterstützen. Die Jagd auf Tutsi sei eröffnet worden. Zeuge „Z“ habe sich in einem Sorghumfeld versteckt, um den Massakern zu entgehen. In Taba wurden laut Anklageschrift rund zweitausend Tutsi ermordet.

Der Gerichtssaal im 4. Stock des „Arusha International Conference Centre“ ist in einen ehemaligen Korridor gezwängt. Am linken Ende sitzt mit stoischer Miene der Angeklagte, flankiert von zwei UN-Polizisten. Die Handschellen werden ihm erst kurz vor dem Betreten des Gerichtssaals abgenommen. Die Sekretärin eines Richters seufzt: „Ist das denn wirklich nötig, diesen Mann immer in Handschellen zu legen? Wo sollte er denn hin?“

Akayesu notiert alles, was die Zeugen erzählen. Sein Gesicht zeigt keine Spur von Emotion. Vor ihm steht die Bank der Verteidigung. Seine zwei Anwälte, beide Afrikaner in schwarzweißer Robe wie alle Juristen im Saal, nehmen die Zeugen abwechselnd ins Kreuzverhör. Ihre Strategie: Die Zeugen dazu zu bringen zuzugeben, daß sie die geschilderten Vorgänge nicht selbst beobachtet haben, sondern diese vom Hörensagen her wiedergeben. Den beiden Anwälten, einem Kameruner und seinem Kollegen aus der Zentralafrikanischen Republik, gelingt es immer wieder, die Aussagen der Zeugen im Kreuzverhör zu entkräften. Beide stellen ihre Fragen sanft, aber hartnäckig. Nie wird der Eindruck erweckt, die Zeugen würden persönlich angegriffen.

Imposant thront das Gericht aus drei Richtern, zwei Männern und einer Frau, zwischen Verteidigung und Anklage. Die Anklage sitzt am rechten Ende des Korridors, verstärkt von einem Team junger Assistenten. Die Zeugen sitzen den Richtern gegenüber, mit dem Rücken zum Publikum.

Es ist 5 Uhr nachmittags. Neonröhren beleuchten die Szene, die Luft steht wegen der aus Sicherheitsgründen zubetonierten Fenster. Diesseits wie jenseits des schußsicheren Glases, das das Gericht vom Publikum trennt, läuft je ein kaum spürbarer Ventilator. Als die Verteidigung die Vertagung des Kreuzverhörs auf den nächsten Tag beantragt, gibt das Gericht erleichtert statt. Präsident Kama klagt: „Unsere Arbeitsbedingungen sind schrecklich. Vor allem mangelt es uns an frischer Luft.“

Die tansanische Kleinstadt Arusha, abgelegen und verschlafen am Fuß des mächtigen Mount Meru, beherbergt in seinen zahlreichen Hotels eher Touristen auf Safari im Serengeti-Nationalpark. Das „Arusha International Conference Centre“ ist ein erdrückender Betonbau. Hier halten Staatschefs Gipfeltreffen, hier haben sich auch Computerschulen und Reisebüros eingerichtet. Auch DHL besitzt hier ein Büro, das allerdings meist geschlossen ist. Und unter diesen Dächern finden nun Völkermordprozesse statt. Arushas Taxifahrer wissen zwar, wo sich der Eingang befindet; daß der Prozeß läuft, wissen viele in dem kleinen Städtchen nicht.

Die einzigen, die regelmäßig im Publikum sitzen, sind Anwälte, die sich auf kommende Prozesse vorbereiten. Der Pressesaal ist verwaist. Zwei Pulte und einige Stühle aus Rohrgeflecht stehen da, und die beiden Telefone, die im September hastig installiert wurden, funktionieren immer noch nicht.

Kommunikation, erklärt der schwedische Richter Lennart Aspegren, sei ein Problem. „Wir haben Büros in Arusha, in Kigali, in Den Haag und New York, was unsere Arbeit nicht unbedingt erleichtert.“ Das Tribunal ist zwar mit einer Satellitenverbindung ausgerüstet, aber die Reisezeiten von Afrika nach New York sind doppelt so lang wie jene der Mitarbeiter des Tribunals für Ex-Jugoslawien in Den Haag. „Unsere Kollegen in Den Haag haben Zugang zu allen Bibliotheken des Internationalen Gerichtshofs, sogar zu den Akten der Nürnberger Prozesse. Wir haben nicht einmal eine Bibliothek. Man hat uns zwar gesagt, die Bücher seien vor zwei Tagen eingetroffen, ich habe bisher noch kein einziges gesehen.“

Auf dem Papier hat das Tribunal zwei Kammern mit je drei Richtern. Es verfügt aber bis heute nur über einen Gerichtssaal. Ein zweiter war vorgesehen, wurde aber bisher nicht gebaut. Das bringt Probleme: Im Februar soll nämlich ein zweiter Prozeß beginnen. Eine Mitarbeiterin des Gerichtsschreibers zerbricht sich den Kopf: „Wir wissen noch nicht, ob wir den Prozeß gegen Akayesu unterbrechen werden, um mit dem zweiten Prozeß zu beginnen, oder ob wir vormittags die eine Verhandlung führen und nachmittags die andere. Es ist alles noch ungelöst. Und bis dahin wird der zweite Saal kaum gebaut sein, denn die Arbeiten müssen zuerst öffentlich ausgeschrieben werden.“

Warum nicht gleich zwei Säle gebaut worden sind, weiß die Sambierin auch nicht. Auf solche Fragen hin zuckt man beim Tribunal die Schultern und beschuldigt die Administration. Wer genau damit gemeint ist, will niemand wirklich sagen. Der Chef der Administration, ein Äthiopier, wurde entlassen, nachdem Unregelmäßigkeiten bekannt wurden; im Moment amtiert ein Interimschef.

Anfang Januar wies die New York Times auf massive Mißstände innerhalb des Tribunals hin: Nepotismus, Mißmanagement, Schlamperei. Der Artikel forderte, daß notfalls Afrikaner durch Nichtafrikaner ersetzt werden sollen. Schon im Bus nach Arusha diskutieren darüber die Passagiere. Eine Mitarbeiterin des Gerichts beklagt sich: „Ich verstehe nicht, wie man dem Tribunal vorwerfen kann, es sei ineffizient. Wir haben bereits einundzwanzig mutmaßliche Verantwortliche des Völkermordes angeklagt. Wie viele sind es denn in Den Haag? Wir haben bereits sieben von dreizehn Inhaftierten nach Arusha überführt. Wie viele sind es in Den Haag?“ Eine andere ist ebenfalls empört über den Zeitungsbericht: „Das ist purer Rassismus. Diese Vorwürfe sind an den Haaren herbeigezogen und entstehen bloß, weil das Internationale Strafgericht für Ruanda in Afrika ist.“ Diese Aussage wiederholt sich während jedes Gesprächs mit Angehörigen des Tribunals.

„Wir hatten Probleme mit dem Gerichtsschreiber, das stimmt“, erklärt der Präsident des Tribunals, der senegalesische Richter Laity Kama. „Ich glaube, es war nicht allen klar, welche Aufgabe die Richter haben, und es war nicht allen klar, daß das Büro des Gerichtsschreibers dazu da ist, den Richtern die Arbeit zu erleichtern.“ Kama will den Gerichtsschreiber aber nicht vorverurteilen. Er will die Schlußberichte der UN-Untersuchungskommissionen abwarten. Drei Untersuchungskommissionen haben Arusha in seiner kurzen Geschichte bereits besucht: Zwei wurden von der UNO entsandt, die dritte untersuchte die Vorwürfe im Auftrag der US-Regierung.

Weit schwerwiegender ist etwas anderes: Nachdem bereits eine Zeugin, die vor Gericht hätte aussagen sollen, in Ruanda umgebracht worden ist, ist der Zeugenschutz zu einem Kernproblem des Gerichts geworden. Geplant war, daß die Zeugen in einer eigenen kleinen Kammer im Gerichtssaal sitzen, für die Öffentlichkeit nicht sichtbar, und daß ihre Stimmen verfremdet würden. Aber tatsächlich kann das Publikum die Zeugen, wenn sie den Saal betreten, deutlich sehen. Während der Befragung betrachtet die Öffentlichkeit ihren Hinterkopf. Angesichts dessen mutet es lächerlich an, wenn die Zeugen als „Z“ oder „A“ bezeichnet werden.

Das Zeugenschutzprogramm des Tribunals untersteht dem Büro des Gerichtsschreibers Andronico Adede aus Kenia. Der sagt zu dem Problem: „Wir haben im Januar ein Büro für Zeugenschutz eingerichtet. Es hat fünf Mitarbeiter.“ Richter Aspegren kommentiert: „Ich habe gesehen, daß es ein solches Büro gibt, ich weiß auch, daß es eine Telefonnummer hat.“ Geplant ist ferner ein „sicheres Haus“ in Ruandas Hauptstadt Kigali, wo Zeugen übernachten können, bevor sie nach Arusha geflogen werden. Aber solange es keinen wirksamen Schutz gibt, besteht die Gefahr, daß immer weniger Zeugen den Mut haben werden, in Arusha auszusagen.

Am vergangenen Wochenende erfolgte die langerwartete Überführung von vier hochrangigen ruandischen Angeklagten aus Kamerun an das Tribunal. Ein strahlender Pressesprecher des Tribunals verkündet die Ankunft von Théoneste Bagosora in Arusha: Bagosora, ehemaliger Stabschef des ruandischen Verteidigungsministeriums, ist einer der Architekten des Völkermordes.

Die Ankunft der prominenten Angeklagten sorgt allgemein für Erleichterung. Vielleicht wird jetzt, wo die Prozesse begonnen haben, alles anders. Richter Aspegren meint: „Erst jetzt wird allen allmählich klar, was es heißt, ein Gericht zu sein.“