Der Endzeitidylliker

Beethoven für die Erbauung, Schubert für die Erholung – ein Mißverständnis. Franz Schubert, heute vor 200 Jahren zur Welt gekommen, war Avantgardist, Tonmonteur und „multiple Persönlichkeit“  ■ Von Joachim Matzner

Das Dilemma unseres Schubert-Verständnisses begann mit dem Buchstaben „l“, mit einem an sich ja nicht unliebenswerten Austriazismus aus Schuberts Geburtsstadt und Lebensstätte Wien: Franz war zum „Franzl“ geworden – so wie man in Salzburg Mozart zum „Wolferl“ vernockerlt hatte. Und wie man Mozarts kreativen Radius auf „Das Veilchen“, die „Kleine Nachtmusik“, das Ave verum oder einige Opernhighlights verkürzte, wie man den Sinfoniker Mozart, auch den Komponisten von Kammermusik kaum wahrnahm, so war Franz Schubert lange Jahre für die Musikwelt lediglich der Autor des „Lindenbaum“ (Am Brunnen vor dem Tore), des „Heidenröslein“ (Sah ein Knab' ein Röslein stehn) oder der „Forelle“ (In einem Bächlein helle), der Liederschreiber Schubert also.

Nun hat Schubert in seinem kurzen Leben, das heute vor 200 Jahren begann und nach nur 31 Jahren, 1828, endete, nicht weniger als 600 Lieder komponiert. Das Lied nimmt in seinem Oeuvre einen existentiell breiten Raum ein. Aber selbst wenn sich in manchen Schubertschen Liedern regelrechte Dramen abspielen, wenn der formale und emotionale Rahmen bisweilen extrem weit gespannt ist – bis hin zu den Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“ –, so bleibt das Lied als Gattung doch prinzipiell eine Kleinform, deren Überschaubarkeit eher anheimelt. Die Idylle ist nahe, und damit eben auch Franzl oder Wolferl.

Vielleicht hat Schuberts Neigung zum Lied auch mit einem gewissen psychischen Lastenausgleich zu tun: Für sein – trotz des bergenden Freundeskreises, trotz der geselligen „Schubertiaden“ – doch insgesamt ärmliches, großenteils auf finanzielle Zuwendungen und nicht eben üppig fließende Unterrichtsgelder angewiesenes Dasein.

Im Falle Beethovens, den Schubert nur um ein Jahr überlebte und zu dem er in Wien wohl nur recht lose, schüchterne Kontakte pflegte, sieht das anders aus: Titanen sollen expandieren, dürfen gewaltige Sinfonien und Sonaten schreiben, die dann auch gleich mit suggestiven Titeln „(Eroica“, „Schicksalssinfonie“, „Pathétique“, „Appassionata“) bedacht werden. Ein „Ludl“ als Kuschelform von Ludwig wäre schlechterdings nicht vorstellbar. So teilte sich die musikalische Wertewelt schön schlicht auf: Beethoven für die Erbauung, Schubert und Mozart für die Erholung.

„Heimlich im stillen hoffe ich...“

Noch gar nicht so lange ist es her, daß man Schuberts grandiose Klaviersonaten dümmlich verharmloste, als zu ausufernd abtat und sie gegen die Beethovenschen Sonatenkonzentrate auszuspielen versuchte. Es ist sicher auch kein Zufall, daß Robert Schumanns Wort von der „himmlischen Länge“, mit dem er Schuberts Große C-Dur- Sinfonie – die Partitur hatte er im Nachlaß des Komponisten entdeckt – charakterisierte, bis zum heutigen Tage unkorrekt zitiert wird. Man spricht immer wieder von jenen „himmlischen Längen“, benutzt also so fälschlicher- wie bezeichnenderweise den abschätzigen Begriff „Längen“ anstelle des neutralen „Länge“.

Beethoven war nun einmal der musikalische Gott des 19., selbst noch des beginnenden 20. Jahrhunderts (der junge Schubert soll geäußert haben: „Heimlich im stillen hoffe ich, wohl selbst noch etwas aus mir machen zu können, aber wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“), und man war weder willens noch fähig, Franz Schuberts so gänzlich andere kompositorische Konzeption zu akzeptieren oder überhaupt zu erkennen. Eine Konzeption, die auf eine sehr besondere Weise Episches mit Dramatischem verband, sich durchdringen ließ.

Da Episches und Melodisches einander nahestehen, gehört Schubert im Gegensatz zu Beethoven neben Mozart, Chopin und Verdi zu den eindringlichsten Melodikern. Bei Beethoven ist die populärste sinfonische Gestalt das antimelodische, rhythmisch prägnante Kopfmotiv der Fünften (So klopft das Schicksal an die Pforte), bei Schubert ist es eine Melodie, das Cellothema im ersten Satz der „Unvollendeten“.

Kontrapunkt und Katastrophe

Wir dürfen es zu Beginn dieses „Schubert-Jahres“ mit seiner Flut von Büchern und CDs als gar nicht so schlechtes Zeichen für unseren angeblich verflachten Musikgeschmack werten, daß in der vergangenen Jahrhunderthälfte Schuberts größer dimensionierte Instrumentalmusik, die Sinfonien, die Streichquartette, die Klaviertrios und -sonaten, im Bewußtsein der Musikwelt mehr und mehr an Präsenz gewonnen hat und daß es darüber hinaus gerade die anspruchsvollen Spätwerke sind, an denen sich nunmehr unsere Schubert-Vorstellung bildet.

Wenn früher vom Schubert- Quintett die Rede war, dann meinte man damit das Klavierquintett, das „Forellenquintett“, wozu natürlich der Titel das Seine beigetragen hat. Heute denkt man da zunächst an das Streichquartett (C-Dur), das mittlerweile in den Rang eines „Inselstücks“ gelangt ist, also einer Musik, die der Musikliebhaber auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde, um daraus für den Rest seines Lebens seelische und geistige Wesentlichkeit zu saugen.

Daß einem im Fall Franz Schuberts das Wort „Spätwerk“ in den Sinn kommt – und diese Kategorisierung ist ja durchaus geläufig –, rührt an ein merkwürdiges, auch für Mozart relevantes Phänomen: Wie kommt man dazu, bei Komponisten, die derart früh, noch in der ersten Hälfte ihrer dreißiger Lebensjahre, verstorben sind, von Spätwerken zu sprechen? Es muß wohl damit zusammenhängen, daß sich auch hier aufgrund eben nicht biographischer, sondern musikalisch-stilistischer Kriterien die einschlägige Dreiteilung in eine frühe, eine mittlere und eine späte Schaffensperiode vornehmen läßt.

Es ist doch bemerkenswert, wenn sich in so verkürzter Lebenszeit eine gleiche Periodisierung des Schaffensprozesses zeigt wie bei mehr als doppelt so alt gewordenen Komponisten (Händel, Haydn, Verdi). Die Krankheitsgeschichten Schuberts wie Mozarts mögen für die Betroffenen die Befürchtung eines frühen Todes zwar nicht ausgeschlossen haben. Aber entsprechend eindeutige Äußerungen aus ihren jüngeren Lebensjahren sind zumindest nicht überliefert. Die offensichtliche Raffung schöpferischer Lebensphasen von früh an ist ein nicht nur bemerkenswertes, sondern eben auch merkwürdiges Phänomen.

Man weiß von Schubert, daß er noch in seiner letzten Lebenszeit – zu seinem vermutlich syphilitischen Leiden soll noch eine akute Typhusinfektion gekommen sein – plante, sich von dem Wiener Tonsatzlehrer Simon Sechter im Kontrapunkt unterrichten zu lassen, weil er sich in dieser alten Disziplin nicht genügend sattelfest fühlte. Eine wahnwitzige Vorstellung – eines der originärsten musikalischen Genies, die je gelebt haben, spürt zur Kompositionszeit seiner reifsten, seiner „Spätwerke“, das Bedürfnis, vom Meister wieder zum Lehrling zu werden, in einem der kompositorischen Elementarfächer.

Tiefe Ambivalenz also. Zukunftsorientierteres als einen Lehrgang gibt es nicht; und zur Zeit dieses Wunsches schreibt Schubert seine Endzeitkompositionen, die letzten drei Klavierso

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naten (c-Moll, A-Dur, B-Dur), das Streichquintett, etwas früher das letzte Streichquartett in G-Dur, die f-Moll-Fantasie für Klavier vierhändig, die Es-Dur-Messe.

Wieder drängt sich ein Vergleich mit Mozart auf: Dessen Requiem, ein Auftragswerk, war – auf dem Totenbett komponiert – zugleich sein eigenes Requiem, ein Spätwerk des Fünfunddreißigjährigen auch unter rein musikalischem Aspekt. Und wie Schubert sein Streichquintett – sein einziges –, so hat Mozart ebenfalls späte Streichquintette geschrieben, die in der höchsten Höhenregion des gesamten Kammermusikrepertoires angesiedelt sind.

Schließlich kann man Schubert auch im eigentlichen kompositorischen, im satztechnischen Bereich als eine Art Mozart des 19. Jahrhunderts ansehen. Während Beethoven ungemein stringent komponierte, die Musik jeweils strikt zielgerichtet entwickelte, waren Schubert und bisweilen auch Mozart – zumindest anscheinend – von der bedächtigeren Art: Sie reihen eher einen musikalischen Gedanken an den anderen, und jede dieser kompositorischen Gestalten erhält genügend Raum, also Zeit, sich angemessen auszubreiten.

Der drängenden Präsenz und so hörbaren formalen Geschlossenheit des Beethovenschen Entwicklungsprinzips steht hier eine weitgespannte Komplexität gegenüber, die ihre Schlüssigkeit aus viel weniger offenkundigen, untergründigeren Zusammenhängen und Spannungsverläufen gewinnt. Diese können durchaus in schroffen Kontrastierungen bestehen; Gegensätze ziehen sich nicht nur an, sie bilden auch Formen. So kommt es, daß sich bei Schubert, auch Mozart, ganz harte, ja brutale Einbrüche in eine scheinbar idyllische Tönewelt ereignen können, Katastrophenstimmung erzeugen. Man höre sich gerade unter diesem Aspekt einmal die „Unvollendete“ an, die immer noch so gern von dem schon angesprochenen kantablen Cellothema her zur nur „schönen Musik“ simplifiziert wird.

Mit diesem Kontrastprinzip wird Schubert zum Avantgardisten. Er nimmt vorweg, was später Anton Bruckner und Gustav Mahler ihre sinfonischen Kolossalgebilde ermöglicht hat: die kompositorische Arbeit mit gewaltigen, gegeneinandergestellten musikalischen Blöcken. Bruckner liebte es, diese Blockgebilde innerhalb eines Sinfoniesatzes noch dadurch hervorzuheben, daß er sie mit seinen legendär gewordenen Generalpausen trennte. Mahler brachte ein bizarres Element in das nachschubertsche Kontrastprinzip, indem er in einer Art Collagemanier die ungleichen Großpartikel neben- und übereinander lagerte. So findet sich der einst als so gemütvoll-biedermeierlich empfundene Schubert Franzl, den ein biedermännisches Bürgertum an sein trostbedürftiges Herz gezogen hatte, unversehens in einer Vorkämpferrolle, zugleich als das missing link zwischen Mozart und Mahler. Mozart ließ man „unter Tränen lächeln“, Schubert maskierte oft mit heiter wirkenden, wienerisch tänzerischen Melos düsterstes Depressives. Er war, wie in seiner Art Mahler dann auch, eine der faszinierendsten „multiplen Persönlichkeiten“ der Musikhistorie.

Schubert verkörperte eine spezielle Dialektik. In einen kunstgenetischen Zweckverbund, wie ihn eine im Grunde recht strenge Kettenbindung Mozart-Schubert- Mahler darstellt, kann wohl nur eine so autonome, autarke Künstlerpersönlichkeit genügend verbindende Potenz einbringen, wie sie einem Originalgenie vom Range Schuberts gegeben war. Die Dialektik solcher Doppelrolle bestimmt Franz Schuberts musikgeschichtliche Position.