Die Wissenschaft hat festgestellt...

■ Experten sollen politische Entscheidungen rechtfertigen

Er vertraue voll und ganz auf die Wissenschaft, sagte EU-Kommissionspräsident Jacques Santer vor dem BSE-Untersuchungsausschuß, schließlich sei seine eigene Frau Wissenschaftlerin. Die EU- Kommission, wegen ihrer groben Fehleinschätzungen bei den Auswirkungen der Rinderseuche unter Beschuß geraten, beruft sich immer häufiger auf das Votum von Experten, um sich zu rechtfertigen und Vorwürfe aus dem Europaparlament zurückzuweisen: Expertokratie statt Demokratie.

Nicht nur bei der Verschleppung von BSE, auch bei der Zulassung von genetisch verändertem Mais und Soja, bei der Lockerung des Trinkwasserschutzes und nun auch bei der Rechtfertigung erhöhter Pestizidwerte im Babybrei, stets sollen unabhängige Wissenschaftler der EU-Kommission den richtigen Weg gewiesen haben.

Doch wie unabhänigig sind Wissenschaftler, die von den Mitgliedsregierungen vorgeschlagen und von der EU-Kommission ausgewählt sind? Im Unterausschuß BSE des wissenschaftlichen Veterinärausschusses kommen vier von neun Experten aus Großbritannien. Das allein müßte noch nichts heißen, nirgends wird so intensiv über BSE geforscht wie auf der Insel. Auch in Großbritannien gibt es eine Reihe von Wissenschaftlern, die schon vor Jahren vor der Übertragbarkeit der Krankheit auf Menschen gewarnt haben. Aber die sind im Beratungsgremium nicht vertreten. Die abwiegelnden Gutachten bestärken den Verdacht von Verbraucherschützern, daß London nur regierungstreue Wissenschaftler angeboten hat.

Dazu kommt, daß die EU-Kommission die wissenschaftlichen Gutachten offensichtlich nach eigenem Gusto auslegt. In den letzten Tagen sind zwei geheime Sitzungsprotokolle in die belgische Presse geraten. Darin wird deutlich, daß die Expertisen, auf die sich Brüssel etwa bei der Zulassung von genetisch verändertem Mais stützte, bei weitem nicht so fundiert waren, wie die EU-Kommission vorgab. Ganze 14 Zeilen umfaßte die eine, 20 Zeilen die andere. Gefahren für Allergiker beispielsweise werden darin nicht ausgeschlossen, sondern lediglich als „unwahrscheinlich“ eingeschätzt.

Die für Verbraucherschutz zuständige EU-Kommissarin Emma Bonino kritisierte die Entscheidung für als „überstürzt“ und „unter ökonomischem Druck“ gefällt. Vor allem Handelskommissar Sir Leon Brittan hatte seine Kollegen belehrt, daß es zu einem unverantwortlichen Konflikt mit den USA kommen werde, wenn sich die EU dem genetisch manipulierten Mais verschließe.

„Die Kommission hat aus ihren Fehlern im BSE-Skandal nichts gelernt“, wetterte die verbraucherpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Die Sitzungsprotokolle lassen befürchten, daß sich die EU- Kommissare mehrheitlich als Institution zur Durchsetzung von Industrie- und Handelsinteressen verstehen. Die wissenschaftlichen Ausschüsse dienen dabei oft nur der Fassadenmalerei. Alois Berger