In Deutschland gibt es relativ strenge Grenzwerte für den Giftgehalt von Babynahrung. Das muß anders werden, fordert die EU-Kommission: Die Richtlinien behinderten den freien Wettbewerb und seien zum Schutz der Kleinen völlig überflüssig. D

In Deutschland gibt es relativ strenge Grenzwerte für den Giftgehalt von Babynahrung. Das muß anders werden, fordert die EU-Kommission: Die Richtlinien behinderten den freien Wettbewerb und seien zum Schutz der Kleinen völlig überflüssig. Die EU-Kommissare berufen sich dabei auch auf Gesundheitsminister Seehofer

Gift fürs Baby und den freien Handel

Sind spanische Babies robuste Kraftprotze, deutsche aber zarte Pflänzchen Rührmichnichtan? Oder anders gefragt: Verträgt ein spanisches Baby mehr Lindan als ein deutsches? Wenn ja, um wieviel mehr? Die EU-Kommission in Brüssel jedenfalls ist der Meinung, daß auch einem deutschen Kleinkind mehr von dem Giftzeug zugemutet werden kann, als deutsche Gesetze erlauben. Sie hat die Bundesregierung aufgefordert, den Grenzwert für Pestizide in Kindernahrung zu lockern. Sonst werde sie Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen.

Die EU-Kommission stützt sich dabei nicht nur auf ihren wissenschaftlichen Lebensmittelausschuß, sondern auch auf den deutschen Gesundheitsminister. Obwohl nach deutschem Recht ein Kilo Kinderbrei höchstens 0,01 Milligramm Pestizide enthalten darf, hat Horst Seehofer vor drei Jahren im Bundestag lauthals erklärt, daß es nichts schade, wenn's etwas mehr ist.

Die Vorgeschichte beginnt 1993. Damals, im Dezember, wurden im kindgerecht aufbereiteten „Gemüseallerlei“ der Firma Schlecker Lindanrückstände bis zu 0,048 Milligramm gefunden. Im „Vollkornreisbrei“ durften die lieben Kleinen sogar 0,097 Milligramm Brompropylat mitschlecken. Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, versuchte die Landesregierung von Baden-Württemberg, in deren Ländle die Kostproben entdeckt wurden, das Ganze unterm Schraubverschluß zu halten. Sie veranlaßte Schlecker lediglich, die Gläschen aus dem Verkehr zu ziehen.

Doch irgendwie hat die Bevölkerung doch Wind davon bekommen, weshalb der Minister aufgefordert war, vor dem Bundestag Rede und Antwort zu stehen. Wortreich versicherte er, daß zu keiner Zeit Gefahr für den Nachwuchs bestanden habe und daß auch eine Überschreitung des Grenzwertes um das Fünffache der robusten Gesundheit von Kleinkindern nichts anhaben könne.

Nun zieht die Drogeriemarktkette Schlecker ihr Gemüse nicht selbst, sondern kauft es über eine Schweizer Konservenfabrik in Spanien, wo es billig ist. Der spanische Hersteller aber, der zu Hause keine Schwierigkeiten mit den spanischen Grenzwerten kennt, hat die Diskussion in Deutschland aufmerksam verfolgt. Wenn selbst der deutsche Gesundheitsminister eine Überschreitung des deutschen Grenzwertes für unbedenklich hält, folgerten die Spanier messerscharf, dann wollen die Deutschen nicht die Gesundheit der deutschen Kinder, sondern der deutschen Kinderbreihersteller schützen.

Für solche Klagen hat die EU- Kommission stets ein offenes Ohr. Wenn der freie Handel behindert wird, schrillen in Brüssel die Alarmglocken. Der für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zuständige EU-Kommissar Mario Monti beugte sich über die Akten und setzte die übliche Prozedur in Gang. Da es bisher keinen EU-Grenzwert für Pestizide in Kindernahrung gibt, gilt: Alles, was in einem EU-Land zugelassen ist, muß auch in den anderen 14 EU-Ländern verkauft werden dürfen. Einzige Ausnahme: Wenn es ernsthafte gesundheitliche Bedenken gibt, dürfen Mitgliedsländer den Vertrieb untersagen. Doch dann muß die EU-Kommission prüfen, ob sie das Produkt nicht EU-weit verbieten muß.

Also wurde der wissenschaftliche Lebensmittelausschuß mit der Frage betraut, wieviel Pestizide kleine Kinder schadlos wegstecken können. Das Ergebnis: Ein zehn Kilo schweres Baby müßte täglich zwei Kilo von Schleckers spanischem Gemüseallerlei essen, bevor die für Lindan üblichen Symptome wie Schüttelfrost, Muskelkrämpfe, Asthma und Leberschäden aufträten. Zwei oder drei Gläschen am Tag seien also ungefährlich.

Es mag zwar auch Wissenschaftler geben, die zu anderen Schlüssen kommen. Aber die sitzen nicht im wissenschaftlichen Lebensmittelausschuß der EU-Kommission. Für Kommissar Monti jedenfalls ist die Sache klar: Der strenge deutsche Pestizidgrenzwert ist wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen, Deutschland hält sich damit ungerechtfertigterweise die ausländischen Babybreihersteller vom Hals. Immerhin scheinen ihn leise Zweifel beschlichen zu haben, ob er damit auch die anderen 19 EU-Kommissare überzeugen kann. Anfang der Woche hat er ihnen deshalb ausdrücklich noch einmal Seehofers Beschwichtigungsrede ans Herz gelegt. Das muß sie überzeugt haben: Sie beschlossen, ein Verfahren gegen die Bundesrepublik wegen Behinderung des freien Warenverkehrs einzuleiten. Bonn muß den Grenzwert lockern, will die Regierung keine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof riskieren.

Ein Ausweg bleibt noch: Das Europäische Parlament befaßt sich bald in zweiter Lesung mit einer EU-Richtlinie für Babynahrung. Die Grünen fordern, daß künftig für Kindernahrung nur Erzeugnisse aus dem ökologischen Landbau benutzt werden sollen. Unabhängig von Grenzwerten wäre das Gemüseallerlei damit praktisch rückstandsfrei. Doch dagegen kämpft eine Agrar- und Chemielobby, die sich bisher noch so ziemlich überall durchgesetzt hat. Alois Berger, Brüssel