Walvisch: Nicht der einzige Kranksinnige

„Ich bin im Mai 1944 geboren. Meine Eltern und meine ältere Schwester waren schon lange in der Nähe von Amsterdam untergetaucht. Im November 1943 wurde mein Vater bei einer Razzia verhaftet, meine Mutter ist in die Nähe von Haarlem gegangen. Ich bin im Versteck geboren worden. 15 Adressen hat meine Mutter gehabt, als ich ein Baby war. Am Ende ist sie nach Ost-Holland gegangen und mit mir bei armen Bauern in der Nähe der deutschen Grenze untergetaucht. Da sind wir bis nach dem Krieg geblieben. Mein Vater ist nicht zurückgekommen. Der ist direkt nach Auschwitz gebracht und ausradiert worden. Nach dem Krieg war es ganz schwierig. Meine Mutter hat wieder geheiratet, einen nichtjüdischen Freund. Es hing ein Foto von meinem Vater an der Wand. Das war alles. Da war praktisch keine Geschichte. Für meine ältere Schwester war ich der Stellvertreter für meinen Vater. Sie war alt genug, sich an unseren Vater zu erinnern. Und ich hatte sein Gesicht. Das war eine ganz große Tragik. Als ich 17 war habe ich mit meiner Schwester gebrochen. Ich konnte das nicht aushalten. Es war immer ein Kampf mit meiner Schwestern – im Grunde ein Kampf mit mir selbst. Ich habe nichts wissen wollen. Ich komme aus der Flower-Power-Generation. Wo sich sowieso alle neu erfunden haben. So hatte ich nichts mit diesem verdammten Krieg zu tun. Daran habe ich lange Zeit festgehalten. Ein sehr wichtiges Ereignis war, als mein zweiter Sohn mit einer neuen Hose nach Hause kam. Eine Hose mit graun und weißen Streifen. In dem Moment sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt. In meinem Bett habe ich geweint und geschrien. Und nach zwölf Stunden hatte ich das Bild komplett: Als ich ein Junge war haben meine Schwester und ich uns verkleidet. Wir hatten in einer Kiste Verkleidungen, ein Mantel von Santa Claus und eine KZ-Uniform. Meine Schwester war Santa Claus, und ich hatte die Lager-Uniform angezogen. So kamen wir ins Wohnzimmer. Meine Mutter sah uns, schrie, schlug um sich – und ich wußte wirklich nicht, warum. Sie hat es uns nicht erklärt. Viele Jahre später hat mir meine Schwester gesagt, das war die Uniform von meiner Tante. Aus Auschwitz. In dem Moment habe ich ein Stückchen von meiner Identität gefunden. Dann kam die Konferenz. Da entdeckte ich, daß ich nicht der einzige Mensch auf der Welt mit Kranksinnigkeiten war.“ (alle lachen)