Der Herrscher draußen im Lande

Helmut Kohl erwischte gestern einen rabenschwarzen Tag. Hat er seinen Machtinstinkt verloren? Ist das schon der Anfang vom Ende? Eine Zeit ohne Kohl ist plötzlich auch für die Union vorstellbar  ■ Aus Bonn Bettina Gaus

Ein vernichtendes Urteil wird über den Bundeskanzler, die CDU und die größte Oppositionspartei gefällt: Seine „lange, unangefochtene Amtszeit hat gleichzeitig konsolidierend und entleerend auf seine Partei und auf die deutsche Demokratie gewirkt“. Und weiter: „Die ausschließliche Fixierung des Kanzlers auf das Opportune und die Taktik hat zuwege gebracht, daß auch die SPD von taktischen und opportunistischen Erwägungen beherrscht wird. Eine innere Verarmung, die mit der in der CDU korrespondiert, ist nicht wegzudisputieren.“

Wem kommt das bekannt vor? Nein, die Rede ist nicht von Helmut Kohl. Das hat Rudolf Augstein im Spiegel über Konrad Adenauer geschrieben; Anlaß war dessen von seiner Partei nur mühsam erzwungener Rücktritt im Oktober 1963. Geschichte wiederholt sich nicht? Geschichte wiederholt sich doch.

Seit Tagen orakeln die Medien über die Zukunft von Helmut Kohl. Für Urteile über dessen innere Verfassung aber waren fast alle Beobachter auf Zeugnisse aus zweiter oder dritter Hand angewiesen. Bis gestern. Da stand im Parlament die Regierungserklärung zur arbeitsmarktpolitischen Lage auf der Tagesordnung.

Der Bundestag wurde zum Theatersaal, das Rednerpult zur Bühne. Die Kritiker saßen oben im Rang auf der Pressebank. Die Spannung im fast vollbesetzten Plenum war greifbar. Würde der Hauptdarsteller in seiner Rolle als selbstbewußter Kämpfer und entschlossen Handelnder überzeugen können?

Durchgefallen. Helmut Kohl zeigte nach dem offen ausgetragenen Hauskrach der letzten Wochen Nerven. Er war auf die Hilfe von Rita Süssmuth angewiesen, um sich Gehör zu verschaffen: „Können wir bitte wenigstens die Regierungserklärung in Ruhe anhören“, mahnte die Bundestagspräsidentin, als die Zwischenrufe der Opposition vom kurzen Störfeuer zum kontinuierlichen Geräuschteppich angeschwollen waren. Minister und Abgeordnete der Union, die der Rede ihres Chefs anfangs ungeteilte Aufmerksamkeit gewidmet hatten, waren unterdessen schon längst wieder damit beschäftigt, Unterschriftenmappen zu bearbeiten oder kurze Telefongespräche zu führen.

„Wir reden hier von einem wirklich wichtigen Thema,“ hatte Kohl selbst kurz zuvor die Opposition angeblafft. Die reagierte mit schallendem Gelächter. Immerhin waren es Sozialdemokraten und Grüne gewesen, die fast ein halbes Jahr lang vergeblich versucht hatten, den Kanzler zu einer Debatte über den Arbeitsmarkt in den Deutschen Bundestag zu zwingen. Als er endlich nachgegeben hat, geschah das zu einem Zeitpunkt, der für ihn kaum ungünstiger hätte sein können. „Mein Gott, ist der angeschlagen“, kommentierte später in der Lobby eine prominente Oppositionspolitikerin Kohls Rede. Neben Genugtuung war da auch Mitleid zu spüren.

Das Ende der Ära Kohl hat begonnen, und zwar unabhängig davon, ob er zur nächsten Bundestagswahl noch einmal antritt oder nicht. Wie auch immer die Kontroverse um Steuerreform, Rente und Mehrwertsteuer innerhalb der CDU im Detail ausgehen wird: Die Reviere für die Zeit nach dem Kanzlerwechsel werden in diesen Wochen abgesteckt. Mag Regierungschef sein, wer will. Für die Abgeordneten geht es in der allernächsten Zeit um sichere Listenplätze für die nächsten Bundestagswahlen. Massenarbeitslosigkeit und unsichere Renten sind ungünstige Voraussetzungen für Lebensplanung und soziale Sicherheit von Berufspolitikern.

Der Aufstand gegen den Regierungschef in Kohls eigenen Reihen hat aus dem Blickfeld geraten lassen, daß die Widerständler aus ganz unterschiedlichen Lagern kommen. Neoliberale wie den niedersächsischen Oppositionsführer Christian Wulff verbindet wenig mit Verfechtern des Sozialstaates wie Arbeitsminister Norbert Blüm. Der Ausgang des Streits wird über die grundsätzliche Linie der CDU bis nach der Jahrtausendwende entscheiden. Helmut Kohl hat zu derart prinzipiellen Fragen zu lange geschwiegen. Jetzt läuft die Kontroverse an ihm vorbei.

Es ist eigentümlich. Manche Telefongespräche lassen sich in diesen Tagen in Bonn gar nicht so leicht beenden, auch wenn eigentlich nur eine Terminfrage geklärt werden sollte. Nichts werde sich ändern, alle Spekulationen seien Quatsch. Nicht einmal ein Sturm im Wasserglas sei das, versichern einem Gesprächspartner ungefragt. Warum wollen dann bloß so viele unbedingt darüber reden? „Weil's alle satt haben,“ meint einer. Was genau? Die Antwort bleibt unbestimmt.

Es gärt. Wenn zu lange über einen Abgang geredet wird, dann vollzieht er sich auch irgendwann. Über Kohls möglichen Abgang wird nun schon ziemlich lange geredet.

Über Jahre hinweg hat der Kanzler seine Partei geführt wie der autokratische Herrscher eines Entwicklungslandes den Staat. Die CDU hat es sich bieten lassen. Kohls Erfolg hat den Widerstand gebrochen. Das Strickmuster: Die Person des Regierungschefs ist tabu. Themen dürfen kontrovers erörtert werden, so lange er selbst sich nicht dazu geäußert hat. Hat er einmal Stellung genommen, dann ist die politische Debatte damit beendet. Politiker können angegriffen werden, auch schonungslos, so lange er sich nicht persönlich vor sie stellt. Tut er das dann, so sind sie aus der Schußlinie. Schweigt er, dann ist ihr Sturz nur noch eine Frage der Zeit.

Diese Praxis hat Vorteile. Sie erweckt den Eindruck unumschränkter Machtfülle, solange sie funktioniert. Wer es in derartigen Systemen einmal bis nach oben geschafft hat, an den traut sich lange keiner mehr heran. Sie hat aber auch einen Nachteil: It's lonely at the top, es ist einsam an der Spitze.

Der Mächtige hat irgendwann nur noch Leute um sich, die ihm nach dem Munde reden. Er kennt die Stimmung in der Bevölkerung nicht mehr. Von den Bürgern „draußen im Lande“ spricht Helmut Kohl selbst oft, so auch gestern wieder im Bundestag. Was Kenntnis vortäuschen soll, verrät Distanz.

Aus politischen Freunden und Verbündeten des Mannes an der Spitze werden Jünger oder Gegner. An die Stelle von Treue tritt Nibelungentreue. Erhebt sich dann eine Rebellion, so steht er der fassungslos überrascht gegenüber. Der Potentat stürzt stets aus großer Höhe.

Nun ist Bonn nicht Afrika. Hier muß niemand zu den Waffen greifen, der einen Machtwechsel will. Fernsehinterviews zur rechten Zeit tun's auch. Dabei geht es weniger um den Inhalt aufmüpfiger Äußerungen als um deren Wirkung. Hat sich erst einmal herausgestellt, daß der Platzhirsch nicht unverwundbar ist und ein Angriff auf ihn überlebt werden kann, dann zeigen immer mehr das Geweih.

Wem kann Helmut Kohl noch trauen? Norbert Blüm war, allen Meinungsunterschieden zum Trotz, über Jahre hinweg einer seiner loyalsten und zugleich offenherzigsten Gefolgsleute. Es ist zu bezweifeln, ob sich Kohls Bruch mit dem dienstältesten Minister noch kitten läßt. Seit dem offenen Krach zwischen beiden Politikern in der CDU-Vorstandssitzung vor mehr als einer Woche sollen sie nicht mehr miteinander gesprochen haben, sagt die Süddeutsche Zeitung.

Fraktionschef Wolfgang Schäuble nennt Kohl seinen Freund. Eine Woche nach dem Stern-Gespräch, in dem Schäuble vorsichtig seine Ambitionen auf Kohls Amt hatte durchblicken lassen, demonstrierten die beiden Einigkeit. Seite an Seite, Strickjacke an Rollkragenpullover, ließen sie sich gemeinsam in der Illustrierten ablichten und beschworen auf diese Weise das unverbrüchliche Männerbündnis.

Beide Politiker hatten das offenbar für notwendig gehalten. Ob es dem Kanzler gefallen hat, aus taktischen Erwägungen zu einem derartigen Fototermin gezwungen zu sein? Es ist ein Unterschied, ob einer, der sich für unersetzlich hält, einen Nachfolger für die unbestimmte, ferne Zukunft im Blick hat oder ob der sich irgendwann selbst ins Gespräch bringt. Verteidigungsminister Volker Rühe, der seinen eigenen Ehrgeiz geschickt zu verbergen gelernt hat, wirkt seltsam zufrieden, wenn er auf Schäubles Äußerungen angesprochen wird.

Blickt er in die richtige Richtung? Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf war von Kohl als möglicher Rivale ausgebootet worden. Seit seinem Comeback in der Provinz hält er unauffällig und beständig bei Umfragen einen der vordersten Plätze in der Popularität. Zu bundespolitischen Themen schwieg er lange beredt. In der letzten Woche nicht mehr. Da hat er ein Interview zur geplanten Steuerreform gegeben. Weiß noch irgend jemand, was er gesagt hat? War es wichtig? Wichtig war doch nur: Da hat sich einer zurückgemeldet, dem der Zeitpunkt günstig schien.

Warum macht einer, der seine Karriere auf taktisches Geschick begründet hat, solche Fehler wie Helmut Kohl in den letzten Wochen? Der Vorgang mutet vertraut an. Irgendwann heben sie alle ab: Margret Thatcher, Helmut Schmidt, auch Richard Nixon. Als sie sich ihrer weltpolitischen Bedeutung so sicher wähnten, daß sie glaubten, von internen Querelen nicht mehr belästigt werden zu müssen, stürzten sie.

Im Falle Helmut Kohls kommt hinzu, daß ihm nun auch noch außenpolitisch eine Niederlage droht – die wohl schwerste seiner Amtszeit. Das Zusammenwachsen des neuen Europa scheint das einzige Anliegen zu sein, das ihm noch wirklich am Herzen liegt. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, daß trotz aller rigider Sparbemühungen Deutschland die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages kaum erfüllen wird. Die Eurowährung droht wieder zu einem Projekt für die fernere Zukunft zu werden. Die aber findet dann ohne Helmut Kohl als Bundeskanzler statt.