Unter Hausmütterchens sanfter Knute

Ein Singsang nach Marthaler-Art: In Bryan S. Johnsons Erzählung „Lebensabend“ verirren sich die Insassen eines Altersheims in ihren Erinnerungen. Jetzt hat Hans-Ulrich Becker die geriatrische Komödie in Stuttgart uraufgeführt  ■ Von Jürgen Berger

Charlie Edwards hat das vergleichsweise beste Los gezogen. Wenn er von seinem früheren Leben träumt, geistern angenehme Erinnerungen aus seiner Zeit als Barpianist durch das Gehirn des 78jährigen. Charlie ist eine der Figuren in Bryan Stanley Johnsons geriatrischer Komödie „House Mother Normal“, dem der Schneekluth Verlag für die deutsche Gesamtausgabe den Titel „Lebensabend“ verpaßte.

Johnson nahm sich Anfang der siebziger Jahre das Leben; kurz zuvor hatte er „House Mother Normal“ fertiggestellt und das Werk einen Roman genannt, obwohl es alles andere als ein erzählendes ist. Johnson experimentierte in Joyce- Nachfolge mit epischen Formen, bei seinen Altersheiminsassen charakterisiert schon die literarische Form die Lebenssituation: Sie monologisieren isoliert in voneinander getrennten Kapiteln, leben in einem Reich der Erinnerung und unter der sanften Knute einer Housemother, die in ihren inneren Monologen auftaucht.

Eine Vorlage, die förmlich nach einer Dramatisierung verlangt. Die Monologe sind absolut bühnentauglich und suggerieren szenische Vorgänge. Daß Hans-Ulrich Becker zusammen mit seiner Dramaturgin Eva-Maria Voigtländer jetzt eine „Bühneneinrichtung“ am Stuttgarter Staatstheater zur Uraufführung brachte, dürfte unter anderem mit seiner Vorliebe für klaustrophobische Situationen wie in Jerofejews „Walpurgisnacht“ zu tun haben. Mit dieser russischen Kuckucksnestvariante wurde er vor drei Jahren zum Theatertreffen eingeladen, jetzt hat er sich wieder etwas vorgenommen, das detailgenaue Charakterstudien verlangt. Das Ergebnis ist ein neuerliches Beispiel für die Tendenz im deutschen Theater, sich abseits der Klassiker und zeitgenössischen Stücke eigene Projekte zurechtzulegen.

Daß die Typen in Johnsons „House Mother Normal“ – der knitzige Charlie, der schmerzverbitterte Ron, die verfressene Gloria, die verfettete Ivy und die feine, zerbrechliche Sioned – nicht einfach naturalistisch auf die Bühne zu bringen sind, war klar. Damit über der Inszenierung nicht die Schwere eines sozialpädagogischen Zeigefingers laste, hat Becker die Frauenrollen mit Männer und die Männerrollen mit Frauen besetzt. Im Falle von Charlie mümmelt Hedi Kriegeskotte über die Bühne und erlaubt sich kurze Fred-Astaire-Reminiszensen.

Beeindruckend, wie genau sie diesen Typ des immer noch hellwachen Kauzes gibt. Michael Stiller spielt eine pietistisch-vertrocknete Alte namens Sarah, als habe er selbst schon erlebt, wie das ist, wenn man in sich zusammengeschnurrt überall eine Bedrohung wittert. Die eigentliche Paraderolle allerdings hat Rainer Bock als Hausmutter. Als Abbild all der vielgeschmähten Altenpflegerinnen und -pfleger spielt er das gesamte Spektrum von der pampersschwingenden Domina bis zum Blockwart mit der Bettfessel durch, und zeigt dabei doch, daß auch sie von einem besseren Leben jenseits der Bettpfanne träumt.

Die Bocksche Hausmutter kokettiert mit dem Publikum, dann wieder erlaubt sie sich Sadismen und brutale Sätze, die den Verdacht nahe legen: Die kommt zur Sache, sobald die Öffentlichkeit, sprich das Publikum, ausgeblendet ist. Wenn sie kurz die Fassung verliert, gewinnt sie mit einem kecken Schwung der Haare wieder Gewalt über sich und wandelt als Krankenschwester, Entertainerin und Zuchthauswärterin mit schnellen Trippelschritten in ihrem Reich.

Eigentlich hätte sich Hans-Ulrich Becker völlig darauf verlassen können, daß seine mit äußerstem Engagement agierenden Schauspielerinnen und Schauspieler diesen Abend tragen. Nicht nachvollziehbar deshalb, warum er sie zu Beginn derart marthalerisch und monoton agieren läßt, daß man meint, er habe nicht in Stuttgart, sondern an der Berliner Volksbühne oder am Hamburger Schauspielhaus inszeniert.

Nachdem die Heiminsassen aus ihren Schränken gekrochen sind, dämmern sie vor sich hin und intonieren in Wiederholung das immergleiche „I han ämol ä Schätzli g'habt / und wollt i hät es noch“. Daß sich Erinnerungen häufig um bestimmte Melodieschnipsel ranken, ist in Johnsons Vorlage vorgezeichnet und nicht das Problem. Eher schon, daß Becker so unverblümt Stilmittel Marthalers benutzt und sich der Melancholiegesang im Laufe des Abends genauso unvermittelt verliert, wie er kam.

Am Ende dann ließ er sich ein Strukturprinzip einfallen, das den ganzen Abend hätte bestimmen können. Charlie, Gloria, Ivy & Co. werden zu Erinnerungsmaschinen, verteilen sich im Publikum, verlieren sich in ihren Träumen und rücken den Zuschauern unverschämt mit ihren Wünschen, Obsessionen, Schrägheiten und Liebessehnsüchten auf die Pelle. Der „Lebensabend“ wird zu einem polyphonen Gemurmel und die Theatergänger zu Versuchsobjekten für Schauspieler. Wie lange hält es der Stuttgarter wohl aus, den eigenen Lebensabend so hautnah vorgeführt zu bekommen?

Bryan S. Johnson: „Lebensabend“. Regie: Hans-Ulrich Becker. Bühne: Alexander Müller-Elmau. Mit Rainer Bock, Hedi Kriegeskotte, Michael Stiller, Marcus Calvin, Irene Kugler u. a. Staatstheater Stuttgart. Weitere Aufführungen am 9., 15., 21. 2.