Ornamente der Verschrottung

Der Autounfall ist Privatsache: Ein Essay über die „Geschwindigkeitsfabrik“ war Sponsoren und selbst Verlagen zu brisant. Jetzt fährt der Text auf der Datenautobahn durch das Internet  ■ Von Holger Liebs

Im August 1966 flog eine Schreibmaschine in hohem Bogen aus dem geöffneten Fenster eines 63er Buick, der in Nevada auf dem Interstate Highway 15 unterwewgs war, eine Aktion des amerikanischen Künstlers Ed Ruscha. Ruscha stieg aus und ließ das zerstörte Gerät (Modell „Royal“) fotografieren. Er untersuchte die Deformationen und die Streuung der Maschinenbestandteile – wie bei einem Flugzeugwrack. Aus Schrott wurden Daten. Warum aber mußte statt eines gewöhnlichen Autos ein Schreibinstrument für den künstlerisch angeleiteten Unfall herhalten?

Ruschas „Royal Road Test“ steht exemplarisch für den gleitenden Übergang zwischen Normalität und Kastastrophe in der Automobilgeschichte. Unfallberichterstattung erzählt nicht, sie verschleiert. Der Unfall ist eine schlechthin unverständliche Katastrophe. Zwar werden aufwendige Crashtests schon lange minutiös beschrieben und sogar in Werbeclips verwertet, aber nur als fiktive Produktversprechen höherer Selbstsicherheit und Freiheit.

Doch was der Freizeit-Schumi an Freiheitsvorstellungen in sein rotgespritztes Projektil hineinprojiziert, hat mit den Gesetzen technischer Informationskreisläufe wenig zu tun. Die Ordnung des Unfalls war – und bleibt – vor allem „Expertenwissen in den Programmen der Produktion“, so die Kölner Literaturwissenschaftler Mathias Bickenbach und Michael Stolzke in ihrem Essay „Bilder aus der Geschwindigkeitsfabrik“ (www.textur.com/schrott). „Stoßfänger“, Airbags, verstärkte Fahrgastzellen und bald schon sensorisch aktivierte Räder sind allenfalls Ornamente einer Verschrottung, die, so Paul Virilio, nur als zukünftige Vergangenheit erfaßt werden kann.

Es waren die an marginaler Stelle plazierten Unfallfotos in den Zeitungen, durch die Bickenbach und Stolzke dem Zirkulationsmodell der Geschwindigkeitsfabrik auf die Spur kamen. Jahrelang sammelten sie die Bilder der Wracks, die oft durch schwarze Balken vor den Nummernschildern und grobe Bildrasterung ihrer Besonderheit beraubt worden waren. Fotoarchive gibt es nicht, auch nicht bei der Polizei. Der Unfall ist Privatsache.

Entlarvend die Bildunterschriften: „Fahrer“ ohne Namen „verlieren die Kontrolle“, „geraten ins Schleudern“, kollidieren mit „ordnungsgemäß entgegenkommenden Fahrzeugen“ und sind „auf der Stelle tot“ – das Wrack hat meist „nur noch Schrottwert“. Ein beliebiges, graues Raster von Floskeln entsteht, das nur nach Bedarf kombiniert zu werden braucht. Verbale Aufräumarbeit, die aus Chaos Ordnung herstellt. Es war, so wird beflissen gemeldet, ein „technisches Problem“. Die Sprache als Abschleppdienst.

An die Mechanismen der Verdrängung und kollektiven Sehnsüchte schließen da eher schon die Werbetexte an. Unerreicht der Porsche-Spruch: „Töten wir eine gewisse Verherrlichung des Todes“. Schrottfotos, Anzeigensprache und jede Menge weiterführende Hinweise haben die Kölner Germanisten dem Fließtext ihrer Internetseiten als Randnotizen beigegeben – Momentaufnahmen einer „fragmentarischen Kulturgeschichte des Autounfalls“. Noch eine Technikgeschichte, werden manche abwinken. Es gab das Stereoskop, das Telefon, die Schreibmaschine, den Film oder auch: den Flakscheinwerfer. Alles Gegenstände von Diskursanalysen technischer Medien. Nun also das Automobil und die Unfallmoderne. Unfälle, na und?

Die Autoindustrie war weniger gleichgültig, als die Autoren auf die Suche nach Sponsorengeldern für ihr Projekt gingen – ein untrügliches Zeichen für dessen Notwendigkeit. Die Autoproduzenten sind empfindlicher geworden. Erst 1994 machte die Nachricht die Runde, daß Crashtests, sollen sie zu veritablen Ergebnissen führen, nicht simuliert werden können. Zwar stellten einige Firmen Bickenbach und Stolzke Datenmaterial zur Verfügung, aber meistens belanglose Glanzbroschüren oder Konvolute voller Diagramme und Zahlen – für Laien unlesbar. Ein Produzent, der vor Jahrzehnten mit der schier unendlichen Haltbarkeit seiner Produkte warb („er läuft und läuft und läuft...“), befand so knapp wie endgültig: „Das Image des Herstellers wird negativ besetzt.“

„Wir sind alle Insassen der Geschwindigkeitsfabrik“, entgegnen Bickenbach und Stolzke. Die „Bürgerkriegsästhetik“ (FAZ) der Patrol-, Trooper- oder Cherokee- Modelle spricht für sich. Formel- Eins-Boliden haben nur deshalb ein eingebautes Geschwindigkeitslimit, damit den Piloten in den Kurven nicht durch die bloßen Fliehkräfte die Köpfe abknicken. Das Medium Automobil war den Sicherheitsversprechen und -techniken immer genau eine Stoßstangenlänge voraus. Schon 1888 wirbt Benz mit dem Slogan „Bequem und absolut gefahrlos!“ – verglichen mit Pferdefuhrwerken wohlgemerkt. Die Automobilmachung beginnt. Otto Bierbaum, der sich erster „Motorwagen“-Dichter der Geschichte nennen darf, beschreibt 1920 die Fahrt im Eisenbahncoupé als „Gefangenentransport“. Der Distinktionsgewinn sichert den Erfolg des Automobils, der Mythos von der Individualität ist geboren.

Auch der Technostreß beim Rasen, heute zusätzlich ein Effekt auf den digitalen Datenautobahnen, ist nicht neu. Was als „Geschwindigkeitsrausch“ verkannt wird, spiegelt lediglich die Gewöhnung der Wahrnehmung an die neue Reizüberlastung wider. Bierbaum gerät noch goetheanisch über eine „empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent“ ins Schwärmen, doch spätestens seit dem ersten Autorennen 1894 ist die Illusion kontemplativen Fahrgenusses dahin. Die Beschleunigungseffekte werden zu Themen der Kulturkritik, und die neue Technik generiert zwei Fahrertypen: den aristokratischen „Herrenfahrer“ und das lebende Projektil, den „wilden Autler“. Der zweite tritt einen zweifelhaften Siegeszug an. 1911, als der „Blitzen-Benz“ 228 Stundenkilometer Spitze fährt, gehören Unfälle schon zum Alltag.

Während die Kollektivsymbolik der zwanziger Jahre das Bild des souveränen Wagenführers herbeiphantasiert, wird die Demokratisierung des Autounfalls durch den Volkswagen schon vorbereitet. JedeR hat ein Recht auf Schrott! Beim Autobahnbau der dreißiger Jahre gehen, so Bickenbach/ Stolzke, „klassenfreie Mobilität“ und „faschistische Ausbeutung“ Hand in Hand. Am Ende des Geschwindigkeitsvektors stehen später die V 2-Startrampen.

Brecht als lebender Dummy, Baudrillard und der „obszöne Körper“ des Wracks, die geschändete Autoleiche bei Pynchon: Die Kölner Philologen ziehen eine Vielzahl literarischer Quellen für ihre Kulturgeschichte des Schrotts heran – nicht immer dient das dem Textfluß, aber eine „Kulturgeschichte“ kann und darf auch eine essayartige Umkreisung ihres Themas kultivieren, solange sie nicht gleichsam im dicken Ledereinband daherkommt. Nach dem Vorbild der etymologischen Bedeutung von Schrott haben die Autoren „abgeschnittene Stücke“ aneinandergereiht – kapitel- und kolumnenweise.

Aus Mangel an Verlagsinteresse haben Bickenbach und Stolzke den Text ins Netz stellen lassen. Daß die Verlage gar nicht oder nur unter hohem Selbstkostenaufwand drucken wollten, ist bezeichnend. Berliner Verleger hatte sich schon zu einer Veröffentlichung bereit erklärt, der Text war redigiert, die Druckfahnen fertig. Dann sah man erstmals die Abbildungen. Der Ton des darauffolgenden Absageschreibens führt vor, welches Trauma der kollektive Sprach-Unfall anrichten kann. „Die Fotos“, schrieb der Verleger, „machen den Text zu zynisch.“ Hier prallten Welten aufeinander.