■ Heute vor 50 Jahren verabschiedete die CDU ihr Ahlener Programm. War es mehr als eine sozialistische Jugendsünde?
: Was wir von damals lernen können

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Mit diesen Sätzen, oft zitiert, beginnt das Ahlener Programm. Es wurde am 3. Februar 1947 vom Zonenausschuß der CDU für die britische Zone verabschiedet und hat seither eine kontroverse Berühmtheit erlangt. Die einen sehen darin eine sozialistische Jugendsünde der CDU. Die anderen zitieren es als Zeugnis, daß die CDU von den Grundsätzen des Anfangs abgerückt sei. Beide aber entsorgen es auf der Müllhalde der Parteigeschichte. Das ist politisch bequem, historisch einseitig und programmatisch kurzsichtig.

Erstens. Parteien, die ihre Überzeugungen im Laufe der Zeit nicht ändern, verdummen ebenso wie solche, die erst gar keine Überzeugungen haben. Das Ahlener Programm ist ganz gewiß auch ein Dokument jener Zeit, als Deutschland politisch in Zonen aufgeteilt und wirtschaftlich zerstört war, der Kapitalismus weltweit faktisch eine Ausnahme, theoretisch von Joseph A. Schumpeter bereits beerdigt – und der Sozialismus noch eine Hoffnung. Dennoch: Die beiden Grundprinzipien des Programms, nämlich „das machtverteilende Prinzip“, das die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht verhindern soll, und die Forderung, daß die Wirtschaft dem Menschen zu dienen hat und nicht umgekehrt, blieben und bleiben weiter aktuell, und sie fanden Eingang in die Plattform der CDU für die erste Bundestagswahl: Die „Düsseldorfer Leitsätze“ von 1949, die die Soziale Marktwirtschaft politisch begründet haben, lehnen zentrale Planung, Lenkung und Verstaatlichung zwar ab, sind freilich in ihrer Kapitalismuskritik nicht weniger deutlich. Und der moralische Rigorismus, mit dem sie die kapitalistische Bedrohung beschreiben, ist eher noch schärfer:

„Das durch die Planwirtschaft und auch im gewissen Umfang durch die ,freie Marktwirtschaft alten Stils‘ gezüchtete unternehmerische Rentnertum führt zu einer unsozialen Einkommensverteilung. Die Planwirtschaft ernährt ebenso wie die überwundene ,freie Wirtschaft‘ überflüssige Nutznießer in Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Nur die soziale Marktwirtschaft vermag das Schmarotzertum auf allen Gebieten auszuschalten.“ Und als wollten sie es für alle Zeiten manchen Paläoliberalen innerhalb und außerhalb der CDU ins Stammbuch schreiben, heißt es dann: „Die ,Soziale Marktwirtschaft‘ steht auch im Gegensatz zur sogenannten ,freien Wirtschaft‘ liberalistischer Prägung.“

Einen dritten Weg jenseits von Sozialismus und Kapitalismus könnte man das nennen, wenn das Wort nicht längst auf den politisch- korrekten Index gesetzt worden wäre. Das Ahlener Programm war weniger sozialistisch und die Düsseldorfer Leitsätze waren weniger neoliberal, als es die Legende danach aus politischen Gründen und wirtschaftlichen Interessen wahrhaben wollte. Beide zielten auf eine „sozial gebundene Verfassung der gewerblichen Wirtschaft“, auf ein „Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle“.

Zweitens. Man muß die Texte von damals nur etwas anders lesen, um ihre Aktualität zu erkennen. Die sozialen Folgen des Kapitalismus zu bändigen ist besser gelungen als von vielen erwartet. Die sozialen Folgen der Globalisierung zu zähmen erfordert ähnliche Anstrengungen. Die „Bedarfsdeckung des Volkes“ bezieht sich heute nicht mehr primär auf die materielle Armut. Aber wie kann in einer Zeit, in der nicht mehr alle Erwerbsarbeit finden, der Ausschluß aus der Gesellschaft verhindert, die Armut an sozialer Teilhabe bekämpft werden? „Es ist zu berücksichtigen“, heißt es lapidar im Ahlener Programm, „daß die deutsche Wirtschaft nicht nur industriell ist.“ Es ist zu berücksichtigen, muß es heute heißen, daß die deutsche Wirtschaft nicht nur global ist. Wie können in der lokalen Wirtschaft und Gesellschaft genossenschaftliche Betriebe gefördert und soziale Assoziationen unterstützt werden, die weder der Logik des Profits noch der staatlichen Bürokratie gehorchen? Davon dürfte „das Wohlergehen des Volkes“ künftig mit abhängen.

Und schließlich: So wie das Ahlener Programm beides abgelehnt hat, „die unumschränkte Herrschaft des privaten Kapitalismus“ ebenso wie, „noch gefährlicher für die Freiheit des einzelnen“, jene des „Staatskapitalismus“, so wäre heute, beispielsweise, ein staatliches Bildungsmonopol zu überwinden, bei dem die Kosten für die Privilegien der künftigen Akademiker sozialisiert, die Gewinne aber, die sie daraus ziehen, privatisiert werden – und dennoch sicherzustellen, daß niemand aus sozialen Gründen ausgeschlossen bleibt.

Die „Neuordnung von Grund aus“ erfolgte vor fünfzig Jahren nach Krieg, Katastrophe und Zusammenbruch. Es ist eine offene Frage, ob Demokratien in Zeiten des Wohlstands wirkliche Reformen oder nur Reparaturnovellen zustande bringen. Damals jedenfalls begann der Aufstieg der CDU durch eine Kombination scheinbar widersprüchlicher Maximen: Flexibel und undogmatisch, keine Flucht aus der Realität, mit dem Bild einer wünschbaren Gesellschaft im Kopfe: Es ist das Profil und das Erfolgsgeheimnis einer postmodernen Partei, damals und heute wiederum nach einer langen Phase der eindimensionalen Modernisierung, in der die Politik oft genug zu bloßen Wahlgeschenken und später dann zu bloßen Sparprogrammen verkümmerte. Ob der Weg zu einer solchen postmodernen Partei gelingt, bleibt abzuwarten. Kurzfristig ist es immer auch, absente oppositione, einfacher zu haben. Die Zeitschrift Economist hat den britischen – und auch den deutschen? – Konservativen den guten Rat gegeben, auf ein Wahlmanifest gleich ganz zu verzichten und den Wählern einfach zu sagen: „Wenn ihr uns wiederwählt, versprechen wir euch, auch in Zukunft so konservativ zu sein wie ihr selbst. Gott segne Euch alle und – gute Nacht.“ Warnfried Dettling