Ein Hauch von Perestroika im SED-Apparat

■ Vor zehn Jahren sorgte das SED-SPD-Papier, in dem ein „Wettbewerb der Systeme“ vereinbart wurde, für Furore. Eine Veranstaltung mit den Verfassern

Berlin (taz) – Ein Papier und viele Wahrnehmungen: Für den Schriftsteller Rolf Schneider war es „fast wie eine Erlösung“, für den PDS-Chef Lothar Bisky schlug es ein wie eine „Bombe“, und der Bonner SPD-Abgeordnete Gert Weisskirchen spricht von einem „ungeheuren Wagnis, das überraschenderweise gut ausgegangen ist“. Die Rede ist vom SPD-SED- Papier, einem Dokument mit dem sperrigen Titel: „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Vor zehn Jahren wurde es verabschiedet und sorgte für Furore. Und der SPD brachte es den Vorwurf der „unsittlichen Kumpanei“ mit dem Parteiapparat der SED ein.

Berlin-Mitte, am späten Samstagnachmittag. Überraschend viele, einige hundert, sind zur Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Das verfemte Dokument“ gekommen. Erhard Eppler, als Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD 1987 am Zustandekommen des Papiers maßgeblich beteiligt, holt aus. Es sei darum gegangen, zu einem zivilisierten politischen Streit über das, was im Thesenpapier später „Wettbewerb der Systeme“ hieß, zu kommen. Er habe die „SED festnageln wollen“, ob die damals von ihr geäußerten Reformbestrebungen auch wirklich ernst gemeint waren. „Wer mitreden wollte und konnte“, beschreibt Eppler sein damaliges Kalkül, „der mußte dies früher oder später auch mit der eigenen Bevölkerung tun.“ Die Folgen seien von den SED- Oberen unterschätzt worden: „Das Politbüro wußte nicht, was es tat, als es das Papier passieren ließ.“

Epplers Kalkül ging offensichtlich auf. Rolf Reißig, als Mitglied der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED mit der Ausarbeitung des Streitpapiers befaßt, bestätigt im Rückblick, wie riskant die Billigung des Papiers für die SED gewesen ist. Richtig „halsbrecherisch“ war es, weil der angepeilte „Wettbewerb“ die umfassende Information der eigenen Bürger voraussetzte und damit das Wahrheitsmonopol der Partei in Frage stellte. Reißig: „Das war revolutionär für mich.“

Manfred Uschner, von 1984 bis 1989 in der gemeinsamen abrüstungspolitischen Arbeitsgruppe SED/SPD, hingegen widerspricht Epplers These von der Dummheit des Politbüros. Im Gegenteil: Die Sitzung, auf der das Thesenpapier gebilligt wurde, sei mit neun Stunden die längste gewesen, die je stattgefunden habe. Heftig sei gestritten worden, vor allem die Politbüromitglieder Mielke, Axen und Dohlus hätten opponiert. Entschieden habe dann Erich Honecker. Folgt man Uschner, fruchtete alles nichts: Die Wirkung des Dokuments entfaltete sich vor allem in der DDR und vor allen unter denen, die nach dem Vorbild ,Perestroika‘ auch in der SED Reformen einklagten.

Es dauerte nur sieben Wochen, bis die SED-Führung das gemeinsame Papier widerrief und der vereinbarte „Wettbewerb der Systeme“ wieder durch den Klassenkampf ersetzt wurde. Dies hatte, so Uschner, dramatische Folgen: Nachdem die SED-Reformer zurückgepfiffen wurden, sollen 20.000 Funktionäre zwangsversetzt und über 60.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen worden sein. So hoch die Zahlen auch scheinen – den Vorgang kann Bisky, damals Professor an der Babelsberger Hochschule für Film- und Fernsehwesen, bestätigen. Die Veröffentlichung des Papiers „hat schon eingeschlagen wie eine Bombe“. Die späteren Versuche, die Reformbemühungen repressiv zurückzudrängen, hätten nicht mehr gegriffen – die SED-Führung nur weiter an Glaubwürdigkeit verloren. Die Streitschrift und das Verhalten der Parteispitze, da waren sich alle auf dem Podium einig, habe zur moralischen Delegitimierung der SED-Führung und damit auch zur friedlich verlaufenen Wende 1989 beigetragen. Die Frage aber, ob damals die SPD nicht der SED eine Reformwilligkeit unterstellte, zu einem Zeitpunkt als längst klar war, daß diese nicht daran dachte Gorbatschows Reformkurs zu folgen, blieb offen. Wolfgang Gast