Das Vakuum der zivilen Republik

Einen Wettbewerb hat es schon gegeben, weitere sollen folgen. Um aber zu wissen, wie die Spreeinsel aussehen soll, muß zuvor die Nutzung klar sein  ■ Von Robert Frank

Wie ein verbogenes Fragezeichen liegt die Spreeinsel zwischen den Flußarmen im Zentrum der Stadt. Die Mitte dieses Fragezeichens ist eine leere Stelle, ein Unort, ein Platz der Abrisse und Destruktion.

Abriß und Destruktion haben hier jedoch Geschichte. 1448 fluteten die Stadtbürger Berlins und Cöllns die Grundmauern der kurfürstlichen Zwingburg. Nach dem Auszug des letzten deutschen Kaisers beschoß die Garde-Kavallerie-Division das von Matrosen der Volksmarine besetzte Stadtschloß. 1950 ließ Walter Ulbricht das Schloß sprengen, dessen Mauern den Krieg in Teilen überstanden hatten. Am Ostufer der Spree wurde die historische Stadtstruktur planiert, westlich des Spreekanals noch 1962 der bereits reparierte Rohbau von Schinkels Bauakademie abgerissen. Die wiedervereinte Stadt schließlich wollte den zerstörten Stadtplan rekonstruieren, räumte aber das – bis zuletzt funktionstüchtige – Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR ab. Die „Restitution“ der Bauakademie ist – als willkommener Präzedenzfall für das Stadtschloß – schon beschlossene Sache, nur gibt es dafür bisher weder Nutzungsprogramm noch Finanzierung.

Für den Einzug der Bundesregierung in die Mitte bereiteten das Bundesministerium für Bauwesen und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz im Sommer 1993 die erste Phase des „Internationalen Ideenwettbewerbs Spreeinsel“ vor. Eberhard Diepgen war damals überzeugt, daß sich „im Herzen der Stadt das Selbstverständnis unseres Gemeinwesens am deutlichsten widerspiegeln“ würde. Zur gleichen Zeit eröffnete der Förderverein „Berliner Stadtschloß“ seine „Ausstellung über die Mitte Berlins“ inmitten der monumentalen Folienfassade. Diese preußische Fata Morgana, die für 457 Tage das untergegangene Schloß der Könige vor- und den Palast der Republik wegspiegelte, rückte nicht nur die Bedeutung des Ortes ins öffentliche Bewußtsein, sondern auch die Frage, welche Aufgabe die demokratische Gesellschaft heute dieser nun „Schloßplatz“ genannten Mitte von Stadt und Staat geben kann. „Wir haben kein Programm für diesen Ort“ hieß noch im Mai 1994 das Eingeständnis der damaligen Bauministerin.

Am 31. Mai 1996, also mehr als zwei Jahre später, beschließt der Gemeinsame Ausschuß Berlin- Bonn noch immer das gleiche banale Bauprogramm, nämlich die „Kernelemente eines Nutzungskonzeptes“ für das „Vakuum in der Mitte Berlins“: ein Konferenzzentrum, das für bestimmte größere Veranstaltungen wie etwa internationale Konferenzen von Regierung, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft geeignet ist, eine große Bibliothek, Flächen für Wechselausstellungen sowie Geschäfte und Restaurants.

Schon in ihren Entwürfen zum Internationalen Ideenwettbewerb hatten die Architeken Vorschläge für eine angemessene Nutzung in der Mitte der Spreeinsel gemacht, die auch in den folgenden Diskussionen weitergeführt wurden. Doch ganz ungerührt und ohne jede Rücksicht auf Kontroverse und Kritik wiederholte der Gemeinsame Ausschuß nur noch einmal die gleichen Planungsvorgaben, und zwar für „ein Konferenzzentrum“, nun mit Hotel (als ob in der Stadt nicht schon jetzt 45.000 Hotelbetten auf Gäste warteten), „eine große Bibliothek“ und urbane Einrichtungen „wie Geschäfte und Restaurants“. Während die durch Wilhelm von Boddien zustande gebrachte Schloßkulisse zumindest eine Vorstellung des historischen Stadtbildes am Ende der „Linden“ vermittelte, lieferte der Gemeinsame Ausschuß von Senat und Regierung 1.444 Tage nach seinem ersten Beschluß zum Bauprogramm nur immer noch den gleichen Gemeinplatz, daß im Niemandsland der Spreeinsel „urbanes Leben ermöglicht und gesichert werden“ soll.

Während sich also der Gemeinsame Ausschuß von Senat und Regierung nur noch wiederholte, haben sich die Planungsvoraussetzungen des Areals grundlegend verändert. Der Außenminister geriet zum staatlichen Statthalter auf der Spreeinsel. Dazu sollte der Palast der Republik „aus städtebaulichen, funktionalen und wirtschaftlichen Gründen“ abgerissen werden. Und noch immer steht aber zwischen dem Ufer des Spreekanals und der Breiten Straße das Staatsratsgebäude der DDR, inzwischen Berliner Sitz des umzugsbeauftragten Bundesministers Klaus Töpfer. Der sogenannte Schloßplatzbereich umfaßt nach der letzten Umbenennung den Rest des ursprünglichen Schloßplatzes zwischen den Spreearmen, die historische Schloßfreiheit, das Vorfeld des Palastes der Republik (den bisherigen Marx-Engels- Platz), insgesamt also das weite Areal zwischen dem Staatsratsgebäude und der Karl-Liebknecht- Straße. Vor der Frontfassade des Palastes der Republik graben seit einem Jahr die Mitarbeiter des Archäologischen Landesamtes die übriggebliebenen Fundamente des Stadtschlosses aus, graben sich durch Schichtungen der Jahrhunderte bis auf den Grund der Stadtgeschichte.

Ohne weitere Erörterung der bauhistorischen, archäologischen, denkmalpflegerischen oder der städtebaulichen Probleme dieses besonderen Ortes forderte der Gemeinsame Ausschuß in seiner letzten Sitzung aber schon die Vorbereitung eines weiteren Wettbewerbs für die Spreeinsel: „Die städtebauliche Struktur der angrenzenden Räume und Gebäude bezog und bezieht sich weitestgehend auf die Figur des früheren Stadtschlosses. Dessen Kubatur soll daher wieder aufgegriffen werden. Die architektonische Form einer Neubebauung ist mit Hilfe eines Bauwettbewerbes zu klären. Zeitgenössische Lösungen, Rekonstruktionen und Teilrekonstruktionen der historischen Situation sollen im Wettbewerb stehen.“ Was heißt denn dieses „...mit Hilfe eines Bauwettbewerbes zu klären“? Ohne überzeugende Idee und ohne angemessene Funktion bedeutet doch die Forderung des Gemeinsame Ausschusses nach einem „Bauwettbewerb“, daß Architekten schon wieder aufgefordert werden, sich auf eigene Kosten an einer Art von Planungslotterie zu beteiligen.

Nichts ist bisher für diesen Bauplatz und seine Umgebung ausreichend bedacht oder gar beschlossen: Im Süden ist weder die Nutzung des ehemaligen Staatsratsgebäudes (mit seinem weitläufigen Garten) endgültig geklärt, noch der ganze Rest von Alt-Cölln bis zur Spitze der Spreeinsel. Im Westen ist die Schloßfreiheit mitsamt dem breiten Sockel für Wilhelms „Nationaldenkmal“ überhaupt kein Planungsthema. Der Lustgarten im Norden wird – nach endlosen Diskussionen – provisorisch begrünt. Zum Palast der Republik hieß es in der ersten (deutlicheren) Fassung der Ausschußempfehlung noch, daß „ein Wiederaufbau nach der Asbestbeseitigung ... weder funktional noch wirtschaftlich sinnvoll“ sei, in der zweiten (pflaumenweichen) dagegen, das „Nutzungskonzept“ sei in der „gegenwärtigen Form nicht umzusetzen“.

Soll hier wieder der übliche Branchenmix entstehen?

Das Konferenzzentrum, sagt der Regierende Bürgermeister, „ist ein Konferenzzentrum der Bundesregierung“ und würde als solches zum Sperrgebiet. Wenn es hier auch „größere Veranstaltungen für Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft“ geben soll, warum aber nicht im bestehenden, großen, sechseckigen Konferenzsaal, der mit allen seinen flexiblen Möglichkeiten tatsächlich eine „technische Meisterleistung“ ist? Oder soll hier wirklich der übliche Branchenmix entstehen wie jenseits der Spreebrücken an allen Ecken?

Bevor also für die Spreeinsel ein weiterer Wettbewerb ausgeschrieben wird, muß eine angemessene Bauaufgabe formuliert werden. Statt verbrauchter Umschreibungen von „Nutzungsmischung“ und „Urbanität“ erfordert das künftige Zentrum der Bundeshauptstadt eine schlüssige Idee. Die Ruinen des Königsschlosses also für eine Idee? Oder besser: die gerade ausgegrabenen Fundamente des Stadtschlosses für ein sinnvolles Bauprogramm? Tatsächlich: Wo, wenn nicht auf der Spreeinsel, ist das Bild oder Abbild unserer heutigen Gesellschaft zu entwerfen, ein möglichst vorbildliches Gehäuse, der öffentliche Raum einer längst beschworenen „Berliner Republik“?

„Alle Staatsgewalt“ geht in unserem „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ vom Volke aus. Repräsentieren aber die Bauten des Bundes in Berlin das Volk der vereinten, neuen Bundesrepublik Deutschland? Der Bundespräsident residiert im Bellevue, im mehrfach um- und ausgebauten Sommerpalais des Prinzen August Ferdinand von Preußen aus dem Jahr 1787. Der Bundestag wird im Mai 1999 in Paul Wallots – bereits dreimal ausgebrannten/ausgeräumten – Reichstagsgebäude von 1894 zusammentreten. Der Außenminister wird seinen Dienstsitz im 1933-1940 errichteten Reichsbankgebäude nehmen. Der Neubau des Bundeskanzleramtes wird über der Spree mit seinem mächtigen Kubus vor allem Status und Statur des gegenwärtigen Kanzlers repräsentieren.

So bleibt durchaus eine Aufgabe, das Bild einer erneuerten Bundesrepublik auf dem Niemandsland der Spreeinsel aufzubauen und zugleich eine Leerstelle des Grundgesetzes aufzufüllen, das zwar vorschreibt, daß „die Parteien ... bei der politischen Willensbildung des Volkes“ mitwirken, aber nicht erwähnt, was die Staatsbürger politisch bewirken können.

Neue Programme, ganze Denkfabriken forderte Heide Simonis. Ein „Gesellschaftslaboratorium für das 21. Jahrhundert“ wünscht sich der Philosoph Peter Sloterdijk. Ob nun Observatorium, Laboratorium oder Denkfabrik für die Gesellschaft, auf der Spreeinsel geht es darum, die politische Mitte dieser Stadt wiederzugewinnen, also für unsere Zeit in Besitz zu nehmen und zu gestalten!

Der Autor ist Architekturkritiker und Publizist