Der letzte Tango in Hongkong

Gerade seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas ist die Frage der Identität im Großraum Hongkong wieder einmal virulent. Hongkongs Nachkriegsgeneration, die Elite der Finanzmetropole, sieht dem 1. Juli skeptisch entgegen  ■ Von Helen Siu

Besucher Hongkongs sind oft fasziniert vom Kaleidoskop der kulturellen Bilder, die diese Stadt bietet. Wer seinen Nachmittagstee im Peninsula-Hotel trinkt, ist umgeben vom nostalgischen Charme kolonialer Eleganz. Auf dem Weg zur Moschee, die neben den Kasernen des Gurkha-Regiments steht, passiert man die teuren Boutiquen des Ocean Terminal. Weiter nördlich liegt die Temple Street, auf der sich kantonesische Opernsänger, Wahrsager, nepalesische Straßenhändler sowie thailändische und vietnamesische Imbißverkäufer tummeln. Und noch etwas weiter stößt man auf die Women Street, einen Kleidermarkt, der für die Kader, die seit Jahren zu Tausenden aus China zum Einkaufen nach Hongkong herüberkommen, alle Stile und Größen bereithält.

Diese Multikulturalität der heutigen Stadt ist gewiß beeindruckend, aber ein ähnliches Bild bot Hongkong wahrscheinlich schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Bauern- und Fischerdörfer der Gegend verwandelten sich nicht über Nacht in eine Weltmetropole, sondern stießen erst hundert Jahre später zu Hongkong – das selbst von Anfang an urban und kommerziell war.

Ein Gang durch die Stadt ist ein Gang durch ihre Geschichte und zu ihren Anfängen, als sich eine ausländische Gemeinde unterschiedlicher Herkunft mit einer ebenso komplizierten Welt aus chinesischen Kaufleuten und Arbeitern verband und daraus ein multikulturelles Ereignis formte, das wir heute Hongkong nennen.

Doch diese Bilder gehen an der eigentlichen Frage vorbei, ob es eine eigene „Hongkonger“ kulturelle Identität überhaupt gibt. Bis vor kurzem war es schwierig, einen „Hongkonger“ zu definieren. Tatsächlich ist das eine Frage von Leben und Tod: Bis unsere Generation stirbt, wird es schwer fallen, auf den Friedhöfen Hongkongs einen „echten Hongkonger“ zu finden. Für die Toten der älteren Generation wurde als ihr kultureller Bezugspunkt noch ihr chinesischer Geburtsort in den Grabstein gehauen. Bis 1949 war die Grenze zwischen Hongkong und dem chinesischen Mutterland nicht einmal klar definiert. Schanghai, Guangzhou und Hongkong waren die drei Knotenpunkte eines lebendigen regionalen Netzwerks aus Geschäftsbeziehungen, Kapitalflüssen, Menschenströmen und einer dadurch entstehenden Konsumkultur. Nicht nur Waren zirkulierten zwischen diesen Städten hin und her, sondern auch Theatergruppen mit ihren Stars.

Dieses Netzwerk umfaßte auch Arbeiter. Viele Männer über sechzig im Pearlriverdelta haben in den letzten zwanzig Jahren in Guangzhou und/oder Hongkong gearbeitet. Sie sind gut informiert darüber, was in der Welt vor sich geht, und haben enge Beziehungen zu Leuten in Hongkong und Macau.

Die Beziehungen zwischen Hongkong und China über Guangdong sind historisch jedoch immer mit Ambivalenz betrachtet worden. Peking erinnert die dortige Bevölkerung gerne daran, daß ihre Loyalität dem politischen Zentrum zu gelten habe. Sobald die umtriebigen Südchinesen ihr Chinesischsein jedoch ernst nahmen, gab es Ärger. Historisch gesehen haben es die Südchinesen von der Taiping-Rebellion Mitte des 19. Jahrhunderts über Liang Chi-chao, Sun Yat-sen bis zu den tränenreichen Protesten im Victoriapark nach dem Massaker vom 4. Juni 1989 immer wieder auf sich genommen, das Regime in Peking zu provozieren. „Chinesischsein“ heißt nicht, einem festgelegten Standard kultureller Urregeln zu gehorchen. Vielmehr ist seine gesellschaftliche und politische Bedeutung je nach Zeit und Ort einem ständigen Aushandlungsprozeß ausgesetzt. Identität kann entweder beansprucht oder aufgezwungen werden. Das hängt häufig von der Position am Verhandlungstisch ab.

Gibt es also ein „China-Problem“ für die heutige Hongkong- Generation? Und läßt sich umgekehrt auch von einem „Hongkong- Problem“ für eine chinesische Führungsgeneration sprechen?

Historisch brachten Ereignisse, die Hongkong kulturell durchlässig machten, immer Identitätsprobleme für seine Bewohner mit sich; der nächste Termin dieser Art ist 1997. Verständlicherweise will kein chinesischer Politiker die Verantwortung für die Erneuerung eines ungleichen Vertrages mit Großbritannien übernehmen. Darauf angesprochen, bestehen chinesische Politiker oft auf der Integrität von Chinas nationalen Grenzen und berufen sich auf die Loyalität derer, die sie als Chinesen bezeichnen. Welche Sprache man spricht, welche gesellschaftlichen Themen einem wichtig sind oder ob man sich für einen ausländischen Paß entscheidet oder nicht – all das wird zu einem Problem von Patriotismus und Identität.

Obwohl man einem historisch komplexen Prozeß nicht einfach einen ideologischen Deckel überstülpen kann, war die Identitätsfrage und ihre politischen Implikationen für die Generation der derzeit führenden Kräfte in Hongkong doch immer schon sehr schwierig gewesen. Eben diese Generation des Hongkonger Nachkriegs-Babybooms wird auch in Peking mit Besorgnis beobachtet. Sie ist die westlich ausgebildete, jetsettende professionelle Elite des Finanzwunders dieser Stadt – und überhaupt nicht darauf erpicht, sich von China etwas vorschreiben zu lassen. Hinter ihrem Insistieren auf institutionelle Garantien steht ein Mangel an Vertrauen in den politischen Prozeß des Mutterlandes.

Natürlich würden nur sehr wenige Hongkonger ihre chinesische Abstammung verleugnen. Falls jedoch Schätzungen stimmen, wonach jeder sechste Hongkonger an den Protestdemonstrationen nach dem Tiananmen-Massaker teilnahm, signalisiert das der chinesischen Regierung eine durchaus unangenehme Botschaft: Kulturelle Identifikation führt nicht automatisch zu bedingungsloser politischer Loyalität. Die Gefühle dieser Generation sollte man besser verstehen lernen. Zwar blieb die Verbindung zwischen Südchina und Hongkong immer erhalten, doch die Kinder derer, die um 1949 herum die Grenze überquerten, wußten kaum etwas über China und lernten ein davon ganz verschiedenes Hongkong kennen.

In einer relativ schläfrigen kolonialen Welt gehörte, wer einigermaßen intelligent war und keine Angst vor Arbeit hatte, zu den zwei Prozent, die von einer westlich ausgerichteten Eliteerziehung profitieren konnten. Als diese in den 60er und 70er Jahren ihre Universitätsstudien abschlossen, hatte die Regierung aus den chinesischen Unruhen gelernt, die auch auf Hongkong übergegriffen und dort lange vernachlässigte soziale Probleme ausgelöst hatten. Sie beschloß, in großem Stil in Hongkongs Zukunft zu investieren.

Für die Nachkriegsgeneration der Babyboomer schuf die Entscheidung, Hongkong mit einer neuen Infrastruktur zu versehen, genau zur richtigen Zeit Karrieremöglichkeiten in Handel und Verwaltung. Im Laufe der nächsten 20 Jahre reifte diese Generation in einer immer kosmopolitischer werdenden Stadt zu der Elite heran, die in den 90ern die Entscheidungen treffen und Weichen stellen sollte. Hongkong verließ also fast nur aus Versehen den chinesischen Orbit und öffnete sich nach außen.

Hinzu kam, daß diese Generation als Studenten den weltweiten gesellschaftspolitischen Unruhen der späten 60er Jahre in besonderem Maße ausgesetzt war. Ausgelöst durch die Studentenunruhen 1968 in Frankreich und die Anti-Vietnam-Proteste in den USA, richteten die Honkonger Studenten ihre Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Probleme ihrer eigenen Stadt. Ihre Unruhe Anfang der 70er Jahre wurde auch von einem neu erwachten Interesse an einem „sozialistischen Mutterland“ angetrieben, das sie kaum kannten. Ihr Interesse an China war also weniger durch Fragen ursprünglicher Zugehörigkeit motiviert als durch ein weltweit verbreitetes liberales Politikverständnis – und einen fast religiösen Glauben an politische Ideen.

Der 4. Juni 1989 war der traumatische Höhepunkt einer bereits seit Jahrzehnten andauernden Enttäuschung. Schon die Einwandererflut aus dem ländlichen China Ende der 70er Jahre und deren Anpassungsprobleme hatten dieser Generation gezeigt, wie groß der Unterschied zwischen ihnen und ihren „Landsleuten“ jenseits der Grenze eigentlich war. Die ideologische Luftblase platzte, je mehr diese Generation der funktionalen Logik des Mutterlandes selbst ausgesetzt war. Als sie das am Ende begriff, war ihr eigenes Schicksal schon längst fest an das Chinas angekoppelt.

Die kulturellen Bezugspunkte dieser Generation von Hongkongern sind ebenso ambivalent wie ihre politische Orientierung. Die Verbundenheit mit allem, was chinesisch aussah, klang oder schmeckte, war für sie längst nicht mehr so selbstverständlich wie für ihre Eltern. Sie kannten Shakespeare und T.S. Eliot ebensogut wie die chinesische Tang-Dichtung. Seit den 70ern schufen sie ihre eigenen Trends, besonders in der Filmindustrie. Diese neue Ästhetik signalisierte einen definitiven Abschied von der hochmoralischen kulturellen Welt der außerhalb des Mutterlandes lebenden Chinesen und drückte die Hoffnungen und Träume einer Generation aus, die ganz eindeutig Made in Hongkong war und für die China deshalb als Bezugspunkt nicht mehr existierte.

Die Karrieren der Babyboomer spiegeln auch die Bedeutung Hongkongs als Finanzmetropole des ostpazifischen Raums. Ehemalige Familienunternehmen eroberten den Weltmarkt und sind inzwischen auch nach China selbst vorgedrungen. Die Babyboomer besetzen die Schlüsselpositionen in Handel und Verwaltung, und die Soziologie nannte sie bald Hongkongs „neue globale Mittelklasse“.

Zusammenfassend kann man sagen: Die Babyboomer sind unübersehbar, selbstbewußt, und sie haben eine Stimme. Ihr Leben besteht aus mehr als dem Konsum von Luxusgütern. Ihre intellektuellen Fähigkeiten und internationalen Beziehungen, ihr finanzielles Know-how und nicht zuletzt ihr soziales Bewußtsein machen Peking neidisch – und unruhig. Es wird der chinesischen Regierung nicht leicht fallen, sich ihnen gegenüber auf die kulturelle Identität des Chinesischseins zu berufen oder sie mit rein ökonomischen Vorteilen zu ködern. Anders als frühere Generationen ist Hongkongs Nachkriegsgeneration aktiv an der Zukunft der Region beteiligt und hat am meisten zu verlieren, sollte die Öffnung Chinas und der Wandel in Hongkong Probleme machen. Zugleich sind die Babyboomer sehr daran interessiert, China mit ihren eigenen Kriterien und Wertvorstellungen zu konfrontieren.

Neben den Babyboomern gibt es eine weitere gesellschaftliche Gruppe, die für Chinas Zukunft ebenso wichtig ist. Als sich in den 70er Jahren die Nachkriegsgeneration in Hongkong als neue soziale Kraft etablierte, kam eine neue Welle von Einwanderern aus China in Hongkong an.

Hongkong war immer ein Land von Ein- und Auswanderern. Die Bezeichnung „Neueinwanderer“ für die Immigranten der späten 70er überspielt allerdings den höchst schwierigen und komplexen gesellschaftspolitischen Prozeß, der sich aus der Interaktion dieser beiden Gruppen ergab. Sich in das komplizierte und schnellebige Hongkong zu integrieren war für diese späten Immigranten äußerst schwierig. Denn sie kamen, als die Einheimischen gerade anfingen, sich über ihre Zukunft zu sorgen.

Während die Intoleranz der Gebildeten gegen die sogenannten neuen Einwanderer möglicherweise aus der Vorstellung eines „vordringenden“ China resultierte, erlebte die arbeitende Bevölkerung Hongkongs die Neuankömmlinge als reale Bedrohung ihres Lebensunterhalts. Denn genau zu dieser Zeit wurden die Produktionsanlagen mehr und mehr aus Hongkong heraus ins Pearlriverdelta verlagert. Das Negativimage der Neueinwanderer gab den „eingeborenen“ Hongkongern die Möglichkeit, sich als „wir Hongkonger“ von den „anderen“, den Zugezogenen, abzugrenzen.

Dennoch bot die schrittweise ökonomische Liberalisierung Chinas seit Anfang der 80er Jahre den Neuankömmlingen beispiellose Chancen. Wer besondere Fähigkeiten hatte und dazu Beziehungen, etablierte sich schnell in Schlüsselpositionen der Geschäftsbeziehungen zwischen Hongkong und China. Ausländische und Joint-venture-Unternehmen beschäftigen Millionen Arbeiter und Angestellte in Guangdong. Sich mit den regionalen Machthabern und Institutionen zusammenzutun, ist für diese Unternehmen von größter Bedeutung. Und genau hier sind die Neueinwanderer, die aus Hongkong wieder nach China zurückkehren, als wirtschaftliche und politische Mittler bestens plaziert. Sie sind die Pendler in den Eisenbahnen und auf den Flußfähren nach Guangzhou und dem Delta und ein lebenswichtiges Element im jetzt anstehenden Prozeß der Reintegration.

Auch auf Guangdong selbst hatte die Rückkehr dieser Neueinwanderer enorme Auswirkungen. Der Zustrom von Reichtum, Konsumgütern und die Konfrontation mit der Hongkonger TV-Kultur trifft auf eine Bevölkerung, die sich immer weniger mit der ideologischen Maschinerie Pekings identifiziert – und statt dessen immer mehr mit dem Personal der Hongkonger Soaps.

Der Slogan „Hongkonger managen Hongkong“ (Gong yahn jih gong) ist kein leeres Schlagwort, aber man muß sich die ganze Bandbreite der Einwohner Hongkongs, von den dort Geborenen bis zu den verschiedenen Einwanderungswellen, schon etwas genauer ansehen.

Sozialer Aufstieg bedeutete für die Babyboomer die Verfeinerung einer kosmopolitischen Kultur und die Entwicklung einer Berufsethik. Dies ermöglichte einer ganzen Generation den Zugang zur internationalen Gemeinde der Besserverdienenden.

Im vergangenen Jahrzehnt jedoch war die soziale Mobilität der Neueinwanderer eng mit einem explosionsartigen Anstieg von Spekulationen und schlauen Manövern einer relativ benachteiligten Bevölkerung im post-maoistischen China verknüpft. Ausgedehnte Festessen und schicke Karaoke-Bars gehören zu den populäreren Symbolen des guten Lebens dank schneller Profite. In den Boomtowns entlang der matschigen Straßen des Deltas stößt man zunehmend auf Mercedes-Limousinen mit Nummernschildern aus Guangdong oder Hongkong, die eine neue Spezies politischer Mittelsmänner zu ihren Unternehmen kutschieren. Und auf den Straßen Hongkongs begegnet man smart gekleideten Kadern, die alle Augenblicke stehenbleiben und laute Befehle in ihre Handys bellen.

Der Aufstieg der Neueinwanderer-Unternehmer, die sich mit China gut auskennen, geht Hand in Hand mit einer stetig wachsenden Zahl von Funktionären und Beamten des Mutterlandes in Hongkong. Ob Hongkong seine vielfache Rolle als Weltmetropole und Finanzzentrum der Region behalten und gleichzeitig ein wichtiges Element im neuen China werden kann, hängt zu einem großen Teil von der gegenseitigen Anerkennung der Einheimischen und den Gruppen ab, die sich schließlich in Hongkong niederlassen werden. Wird dies der letzte Tango in Hongkong?

Wenn China die, von Peking als Beruhigung gedachte, Parole „Tanzt weiter, laßt weiter die Pferde rennen“ ausgibt, dann inspiriert das nur einen kleinen Teil von Hongkongs Bevölkerung. Von materiellen Zusicherungen einmal abgesehen lautet die entscheidende Frage für die einheimische Elite, inwieweit Hongkong nach seinem eigenen Rhythmus wird weitertanzen können.

Helen Fung-har Siu ist in Hongkong geboren und seit 1982 an der Yale University, zur Zeit als Professorin für Anthropologie und Vorsitzende des Universitätsbeirats für Ostasiatische Studien. Sie hat zahlreiche Bücher und Studien zur chinesischen Geschichte, Anthropologie und Soziologie veröffentlicht, darunter „Down to Earth: The Territorial Bond in South China“ (zusammen mit David Faure, 1995). Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie am 9. Februar 1996 in Hongkong gehalten hat.