Innerchinesischer Exodus

Ein britischer Fotojournalist bereiste im Sommer 1996 Hongkong und die neuen Industriezonen in China. Er traf auf Wanderarbeiter und die „Ameisen der Schönen-neuen-Welt-Ordnung“  ■ Von Julio Etchart

Baoqian, baoqian, wo buzhidao wo zuocuole shi! Sorry! Sorry! Ich wußte nicht, daß das verboten ist!“ Einigermaßen verzweifelt deute ich immer wieder auf die entsprechende Zeile in meinem chinesischen Sprachführer und versuche immer wieder, die Intonation hinzukriegen.

Die Transportpolizei nimmt mich fest, weil ich auf dem Vorplatz der Bahnstation von Kunming in Yunnan Fotos gemacht habe. Der Leiter der Aktion läßt die undurchdringliche Maske fallen und bricht in haltloses Lachen aus. Dann nimmt er wieder Haltung an, wird aber doch freundlicher, bietet mir einen Stuhl an und eine Tasse grünen Tee. Nachdem man mich sehr ernst verwarnt hat, daß ich auf keinen Fall ohne ihre vorherige Erlaubnis Aufnahmen von den Wartenden machen darf, werde ich schließlich entlassen.

Ich hatte die Hunderte von Familien fotografiert, die als Wanderarbeiter aus den armen ländlichen Gebieten des Inneren vor den Bahn- und Busbahnhöfen ihr Lager aufgeschlagen haben. Auf der Suche nach Arbeit in den neuen, von der Regierung ausgewiesenen Industriezonen, strömen sie in die größeren Städte und Provinzhauptstädte des Landes. Guangdong, dessen Nähe zu Hongkong es zu einer attraktiven Region für ausländische Investoren macht, ist der größte Magnet für diesen enormen innerchinesischen Exodus. Dort gibt es in den Special Enterprise Zones Tausende von Fabriken der Leicht- und Montageindustrie.

Die wachsende Arbeitslosigkeit und der Arbeitsmangel auf dem Land sowie der Niedergang der staatlich betriebenen Industrien haben beispiellose soziale Spannungen in China geschaffen. Die Arbeitslosigkeit in den Städten wird auf insgesamt mindestens 10 Millionen Menschen geschätzt, was fast sicher unter der realen Zahl liegt; in den ländlichen Gebieten leben 120 Millionen sogenannte „überschüssige“ Arbeitskräfte. Daraus resutliert Chinas massive innere Wanderbewegung, die sich insbesondere in Richtung Süden und Osten zu den reicheren Küstenregionen hin orientiert. Schätzungsweise gibt es 100 Millionen Wanderarbeiter in China, und ein hoher Prozentsatz der eine Million Spielzeugarbeiter in Guangdong kommen aus den inneren Provinzen.

Nach tagelangen Verhandlungen in Hongkong mit Managern und Pressesprechern der hauptsächlich auslandsfinanzierten Spielzeug- und Elektrofabriken, die im Mutterland operieren, kann ich schließlich zusammen mit einem Kollegen und Dolmetscher vom Asia Monitor Resource Centre die Grenze passieren. Wir können unser Glück kaum fassen, als uns der Manager der Apollo-Fabrik in Dongguan auf eine Tour durch die Montagehallen mitnimmt und mir sogar erlaubt, die Fließbänder zu fotografieren. Später höre ich, daß er dafür von seinem Boß in Hongkong angeschnauzt wurde, der anscheinend nur erlaubt hatte, daß wir draußen herumlaufen dürfen.

Apollo ist mit kleinen Spielzeugtieren und -gewehren, aber auch mit Spraypistolen groß im Geschäft. Das ganze Gebäude ist erfüllt von durchdringendem Farbengeruch, und über den Werkbänken hängt eine Wolke öliger Gase. Die Ventilation ist völlig unzureichend, und nur wenige Arbeiter tragen Mundschutz oder Handschuhe.

Weil es unmöglich ist, während der Schicht mit Arbeitern zu sprechen, warten wir draußen auf den Arbeitsschluß und gehen in einen Imbiß, wo wir die 17jährige Yang Qintong treffen, die aus Gansu in Nordchina stammt. Seit 1994 arbeitet sie für Elektronik- und Plastikspielzeugfabriken in Dongguan, zur Zeit in einer Abteilung für Fernbedienungen. Ihre Schicht beginnt um 7.30 Uhr und dauert bis 18.30 Uhr; dafür bekommt sie im Monat 350 Yuan (etwa 45 US-Dollar). 10 Yuan (1 Dollar) bekommt sie für drei Überstunden. Manchmal schafft sie es, ihren Eltern Geld nach Gansu zu schicken. Sie sehnt sich nach ihrem Heimatdorf, weiß aber nicht, ob es da inzwischen wieder Arbeit gibt.

Nachdem wir uns mit einem Trick in eine zweite Fabrik haben einschmuggeln können, eine Montierfabrik für elektronisches Spielzeug, und vor zwei weiteren abgewiesen wurden, geht es zurück. Allerdings sehen wir uns vorher noch das Amüsierviertel von Shengzhen-City an, der Boomtown gegenüber den neuen Industriezonen. Die wächst in einem derartigen Tempo, daß der gesamte Ort aussieht wie eine riesige Baustelle. Es ist offensichtlich, daß die Infrastruktur mit der Geschwindigkeit der Entwicklung nicht mithalten kann. Auf Schritt und Tritt stößt man auf offene Kanalisation und matschige Straßen voll industriellem Abfall.

Aber die Neureichen der Stadt lieben das Nachtleben von Shengzhen-City, und wir schließen uns einer Gruppe von Jungunternehmern an, die allesamt gleich mehrere mobile Telefone bei sich haben. In ihren chauffeurgesteuerten Limousinen sind sie gerade auf einer Karaoke-Tour und scheinen unsere Tarnung als „Scouts für ein wichtiges ausländisches Unternehmen“ zu akzeptieren.

Der Abend gab uns einen vielsagenden Einblick in die Psyche des neuen China. Die junge Elite hat einen unersättlichen Appetit auf westliche Konsumgüter und das schicke Leben. Sie hält die Masse der Arbeitsmigranten, die sich für sie in den Fabriken abschuften, für kaum besser als Tiere. „Diese Bauern sind doch Wilde. Man muß ihnen die Peitsche geben, wie Mauleseln, damit sie kapieren“, sagt Li Hao nach ein paar Gläsern Bier. Er ist Generalmanager einer Firma für Kuscheltiere. Dann stolpert er vor den Karaoke- Bildschirm und lallt die letzten Zeilen von „My Way“ ins Mikro. Wir überleben unseren Ausflug irgendwie und erreichen gerade noch rechtzeitig vor Schließung um Mitternacht die Grenze.

In der folgenden Woche planen wir einen besondere Tour nach Bagualing, einer riesigen Arbeiterschlafstadt außerhalb von Shengzhen. Wir fragen das Management erst gar nicht um Erlaubnis, weil man uns sowieso nicht hineinlassen würden. Das Ganze spielt sich daher fast wie eine Art Überfall ab: rein in die Wohnungen und so schnell wie möglich wieder raus. Erst fotografieren, dann fragen – und beten, daß uns kein Wächter sieht. Bevor wir am Ende doch noch von zwei Sicherheitsbeamten hinausbefördert werden, können wir ein paar schnelle Interviews mit einigen Arbeiterinnen machen. Eine, die mir besonders auffällt, sitzt auf dem unteren Teil eines Etagenbettes in einem winzigen Zimmer, das sie mit acht anderen jungen Frauen teilt. Ihr gesamter Besitz ist in einer kleinen Ecke ihres Nestes sorgfältig zusammengelegt: eine von vielen Millionen Ameisen der Schönen- neuen-Welt-Ordnung.

Ling Tongang ist 17 Jahre alt und stammt aus Sezchuan. Sie ist hergekommen, um in der Elektronik- und Spielzeugfabrik von Laima-Technologies zu arbeiten. Dort werden Walkie-talkies und tragbare Kommunikationsausrüstungen hergestellt. Die Bezahlung war niedriger, als sie erwartet hatte (400 Yuan, etwa 55 US-Dollar im Monat), was bedeutet, daß sie nichts sparen kann, um es nach Hause zu schicken. Etwa 70 Yuan (10 US-Dollar) werden monatlich für Essen und Unterkunft in den Schlafräumen der Fabrik abgezogen. Die Schichten sind lang: Die Nachschicht hat 10 bis 11 Stunden, und zu Stoßzeiten werden 24-Stunden-Schichten gearbeitet. Alle sind permanent müde.

Wir fragen sie, warum die Gewerkschaften nichts tun. Sie lacht: „Die sind zu nichts zu gebrauchen. Die sind immer auf seiten des Managements.“ Wird sie bleiben? „Sobald ich einen anderen Job finde, bin ich natürlich weg. Aber bis dahin kann ich nichts anderes tun. Ich sitze hier fest.“

Julio Etchart ist Fotojournalist und lebt in Großbritannien. Er bereiste Hongkong und China im Juni/Juli 1996.