Tanz das Opfer

■ Das Theater N. N. zeigt in der Fabrik Joshua Sobols Ghetto, ein irritierendes Musical über die Ambivalenz von Täter-Opfer-Beziehungen und verzweifelten Frohsinn

Wie weit dürfen Menschen bei bei der Selbstverteidigung gehen? Wann verlieren Opfer ihre moralische Überlegenheit? Wann werden sie ihren Verfolgern so ähnlich, daß sie sich selbst aufgeben? Solche Fragen stellt der israelische Dramatiker Joshua Sobol in seinem Musical Ghetto von 1984, das er 1993 nochmals überarbeitete. An diese Letztfassung hält sich auch das Theater N.N. Hamburg bei seiner Aufführung des letzten verzweifelt lebensfrohen Tanzes der jüdischen Theatergruppe im Ghetto von Wilna.

Von einer Grenzsituation zur nächsten springt Sobols Stück, das im Juni 1942, zehn Tage vor der Liquidierung des Ghettos, beginnt. Die Nationalsozialisten haben in der litauischen Hauptstadt eine Art Selbstverwaltung der Juden mit Rat, Gericht und einer jüdischen Polizei eingerichtet. Juden, die ihre Landsleute vor Deportation und Ermordung retten wollen, müssen mit den Deutschen kollaborieren. Die ausweglose Situation macht Gewissenskonflikte und todbringende Entscheidungen unvermeidlich.

Am entsetzlichsten ist die Situation für den jüdischen Polizeichef Gens. Ihm ist das Ghetto Oschmann unterstellt, mit dem Befehl, zweitausend Juden durch Juden töten zu lassen. Er handelt die Zahl auf vierhundert herunter - und handelt nach Sartres Philosophie der schmutzigen Hände:„Ihr seht lieber weg. Damit euer Gewissen rein blieb, habe ich in den Dreck gefaßt.“

Den heiklen Balanceakt von Zusammenbrüchen im Tangoschritt, von Entertainment und tödlichem Ernst wagt nun Regisseur Dieter Seidel mit der Gruppe aus ehemaligen „Stage School“-Schülern. Das Faschismus-Thema ließ ihn nie los bei seiner Theaterarbeit. „Ein Problem für uns alle war, die Ehrfurcht vor dem Holocaust zu überwinden. Wenn es um Tod ging, haben wir über Gegenreaktionen - Lebenslust, Leichtsinn, Vitalität bis zur Hysterie improvisiert. Das hat uns geholfen - auch gegen die falsche Sentimentalität.“

Geholfen hat der Gruppe auch Fanja Fenelons Buch über das Mädchenorchester in Auschwitz. „Die Frauen blickten auf die Verbrennungsöfen und haben doch jeden Tag musiziert.“ Wie spielt und inszeniert man das Unbegreifliche? Seidels Raumkonzeption gibt darauf Antwort. Auf der weiten Bühne der offenen Fabrikhalle ist nichts als ein verschlissener Vorhang. Leuchtendes Symbol für die Scherze der Komödianten. Und zugleich blutrotes Leichentuch. „Wir wollen das Wechselbad der Gefühle, wie es nur auf dem Theater möglich ist: Zwischen Lachen und Weinen, Albernheit und tiefer Trauer.“

Thomas Rössl

Premiere: Donnerstag, 6. Februar, 20 Uhr, Fabrik