Entführung und Verhaftung einer Touristengruppe

■ Seit zwei Jahren widmet sich das „Freie Fach“ dem „städtischen Handeln“. Gegen die Zerstörung des öffentlichen Raums setzen die Aktivisten ihre Theorie, vor allem aber Praxis

„Das Freie Fach“, sagt Jesko Fezer, Architekturstudent an der Hochschule der Künste (HdK), „ist das Fach, in dem die Dinge behandelt werden, die sonst nirgendwo gelehrt werden.“ Weil es ein solches Fach auch an der HdK nicht gab, mußte es erst einmal gegründet werden. Das war vor zwei Jahren, als der Fachbereich Architektur gerade abgeschafft werden sollte. Seitdem die Abwicklung vom Tisch ist, kann sich das Freie Fach nun spannenderen Dingen widmen: zum Beispiel der kunstvollen Intervention in den städtebaulichen Diskurs der Haupstadt.

„Freies Fach – städtisches Handeln“ lautet die Devise der mittlerweile über zehn aktiven ArchitekturstudentInnen. Was zu Zeiten der 68er-Bewegung noch als Einheit von Theorie und Praxis firmierte, betreiben die Freien Fächler heute weitaus lustvoller – in einem dialektischen Prozeß von Theorie und Selbstversuch. Die Theorie ist dabei in einer 84seitigen Broschüre mit dem Titel „Die Stadt schläft nie – Reader zum Thema Stadt und Kapital“ nachzulesen. Und weil sich das Freie Fach, anders als die Dozenten am Fachbereich Architektur, am liebsten mit der städtischen Wirklichkeit auseinandersetzt, haben sie auch einige Thesen zum Thema „Mythos Berlin“ parat: „Bei der Mythosbastelei an diesem Ort geht es um Zerstörung öffentlichen Raumes durch En-gros-Verkauf eines Stadtfragments an Privat zur Steigerung der Urbanitätslust.“

Wie ein solches Thesenkonvolut im Selbstversuch überprüft werden kann, hat das Freie Fach schließlich im Juli des vergangenen Jahres unter Beweis gestellt. Als Probanden für den „Test 09“ mußte dabei eine Touristengruppe aus Hamburg herhalten, die von ihrem Glück, Testgruppe zu sein, freilich nichts wissen durfte. Im von der taz nun erstmals veröffentlichten Testbericht, einem Bekennerschreiben in Sachen städtisches Handeln, heißt es dazu:

„Am Mittwoch, dem 10.7. 1996, übernahm das freie fach die Führung einer 30köpfigen Gruppe Hamburger Touristen durch das Herz der Stadt. Durch sorgfältige Vorbereitung war es uns gelungen, sie dem Reiseführer des Veranstalters Hansa-Hauptstadt-Tours abzuluchsen, ohne daß einem der Teilnehmer etwas aufgefallen wäre. Die Gruppe entsprach sehr genau unseren Vorstellungen davon, wie eine Touristengruppe sich in Berlin bewegen, welche Erwartungen sie stellen, wie sie Berlin sehen und wie Berlin sie sehen würde.“

Beste Voraussetzungen also, mit der Präsentation des Stadtbilds als imaginierter Wirklichkeit und der „Steigerung der Urbanitätslust“ zu beginnen. Eine Präsentation freilich – andere mögen es Entführung nennen –, die nach Angaben der HdK-Studenten nachgerade ein „tragikomisches Ende“ fand. Das ging so:

„Nach einer Verkaufsveranstaltung im Weinhaus Huth, der Besichtigung von Mauerresten vor dem Charlottenburger Schloß und Haschen in der sozialisierten Gropiusstadt kam unsere Gruppe begeistert vom Pinkeln auf einer Junkie-Toilette zurück und forderte erregt mehr Authentizität.“

Das Freie Fach reagierte umgehend, „öffnete“ den Hamburgern den zuvor versperrten Zugang zu einem verfallenen Haus in der Tucholskystraße und überließ die Gruppe sodann ihrem Schicksal, das in Form eines vierzigköpfigen Polizeikommandos vorgefahren kam. „Halb belustigt und halb beschämt“, endet das Bekennerschreiben, „bemühten wir uns nicht um Richtigstellung und beruhigten unser Gewissen mit der Annahme, dreißig Menschen von ihrer konsumierenden und stadtzerstörenden Rolle befreit und zu verwegenen und wilden Aktivisten gemacht zu haben.“

In einer dpa-Meldung hieß es am selben Tag ganz offiziell: „30 Personen wurden vorläufig festgenommen. Die Gruppe, die von einem Polizeisprecher als ,untypisch für die autonome Szene‘ eingestuft wurde, machte keine Angaben zu Person und Motiv.“

Daß dies nicht der einzige „Test“ war, läßt sich alleine an der fortlaufenden Nummer 09 ablesen. Weitere Überprüfungen des Zusammenhangs von Theorie und städtischem Handeln ergaben sich unter anderem beim vorgezogenen Abriß des DDR-Außenministeriums (dessen Fassadenteile sich noch heute zum Teil in den Händen der Aktionisten befinden) oder einer Demo gegen einen – tatsächlich nie geplanten – Hubschrauberlandeplatz auf der Mittelinsel des Ernst-Reuter-Platzes. Aber auch die anderen Tests – zum Beispiel getarnt als „Record Release Party bei Teppich Kibek“ – waren immer für eine Überraschung gut. Und sorgten für Aufregung, etwa wenn es hieß, die städtischen Happenings „in Bank-Automaten-Hallen oder auf der Info- Box am Potsdamer Platz“ abzuhalten. Uwe Rada