Ich mag das Wort Quote nicht

■ Jack Lang - ehemaliger Kulturminister von Mitterrand und ab nächsten Donnerstag Vorsitzender der Berlinale-Jury - über den feinen Unterschied zwischen Protektionismus und "positiver Ermunterung"

taz: Sie sind der erste Politiker, der Jurypräsident bei der Berlinale wird.

Jack Lang: Ja, es scheint so. Warum, das kann ich auch nicht erklären. Aber bevor ich Politiker wurde, war ich ja ein Mann der Kultur. Zuerst habe ich am Theater in Nancy in Lothringen gearbeitet, dann wurde ich 1972 Direktor des Nationalen Theaters Chaillot in Paris. Wenn Sie so wollen, habe ich parallel drei Leben geführt: Mann der Kultur, Politiker und Professor für Jura an der Universität Paris. Vermutlich hat der Festivaldirektor aber die vierte Person in mir gewählt, diejenige, die zugleich die Synthese der drei anderen ist: den Kulturminister von François Mitterrand.

Welchen deutschen Film haben Sie zuletzt gesehen?

Das ist eine Frage, auf die ich nicht so gut antworten kann. Der letzte ... Also ich sage Ihnen lieber, welches der letzte deutsche Film war, der mich beeindruckt hat. Meine selektive Erinnerung sagt mir, daß es „Der Himmel über Berlin“ war. Von ... (schnippt mit den Fingern) ... na, wie war noch sein Name?

Wim Wenders.

Natürlich: Wenders! Voilà. Und dann sehe ich immer wieder gerne die großen Filme der deutschen Geschichte. Ich werde nicht müde, „Metropolis“ von Fritz Lang anzugucken oder die Filme von Murnau. Ich liebe das deutsche expressionistische Kino, das war eine sehr große Epoche. Aber ich will keine Hierarchie aufstellen.

Von dem aktuellen deutschen Kino halten Sie nicht soviel?

Ich bitte Sie! „Der Himmel über Berlin“ ist doch ein großer Film. Selbst wenn er in Deutschland nicht so gut ankam wie hier in Frankreich. Und dann gab es doch diese bewundernswerten Filme der letzten 20 Jahre. Ich will hier keine Hitliste aufstellen, aber Herzog hat große Filme gemacht. Schlöndorff auch, besonders „Die Blechtrommel“. Dann Wim Wenders. Auch Margarethe von Trotta ist eine große Cineastin. Und dann habe ich kürzlich persönlich eine Veranstaltung über einen deutschen Filmemacher unterstützt, der auch Theaterstücke inszeniert hat. Der ist vor sechs oder sieben Jahren gestorben. Ach – man kennt ihn doch... (schnippt dabei wieder suchend mit den Fingern)

Meinen Sie Fassbinder?

Ja, genau. Er wird hier sehr bewundert. Er gehört zur Mythologie. Ich weiß nicht, ob er in Deutschland genauso verehrt wird.

Welches ist denn der letzte französische Film, der Sie beeindruckt hat?

(lautes Stöhnen) Ich habe einen Horror vor solchen Fragen. (langes Schweigen) Das ist der Film von einer jungen Frau, Sandrine Veysset. Kennen Sie die?

Sie meinen „Y aura-t-il de la neige a noäl?“ [„Wird es Weihnachten schneien?“ – der Film kam in Frankreich Ende letzten Jahres in die Kinos und ist noch nicht auf dem deutschen Markt; Anm. d. Red.].

Das ist eine ganz neue und brillante Filmemacherin. Voller Sensibilität und Intelligenz. Eine neue Generation. Besonders bei den Frauen. Der Film ist beachtlich.

Laut Statistik gucken die Franzosen weniger amerikanische Filme als die Deutschen. Was steckt dahinter? Liegt es an der Qualität des französischen Films? Oder an der Förderung, die er genießt?

Es gibt nicht die eine Erklärung dafür. Für mich ist es ein Rätsel, warum das deutsche Kino in einer Krise steckt, obwohl es so brillante Regisseure gibt. In Frankreich gilt das deutsche Kino als eines der feinfühligsten überhaupt.

Was Frankreich betrifft, so ist es traditionell kinobegeistert. Kino ist als Kunst anerkannt. Es wird nicht als simple Unterhaltung verstanden – es ist Teil des Lebens, des Gedächtnisses, der Gegenwart. Es gehört zum sozialen Leben. Es ist vergleichbar mit dem Platz, den die Musik in der deutschen Seele besetzt. Da kommt eine Menge zusammen. Es gibt eine individuelle Begeisterung, aber auch eine kollektive. Man spricht hier viel vom Kino – im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen. Überall. Und ich habe versucht, diese Liebe zum Kino staatlich zu fördern.

Der Protektionismus hat in Frankreich eine gewisse Tradition, die auch Sie weitergeführt haben...

Den Ausdruck „Protektionismus“ akzeptiere ich nicht. Die Politik, die ich geführt habe, ist kein Protektionismus, sondern eine positive Ermunterung zur eigenen Produktion. Und zwar nicht allein zur französischen, sondern auch zu Koproduktionen, zum Beispiel mit Deutschland und Italien. Es gibt einen Unterstützungsfonds – ein wenig wie in Deutschland –, der von einer kleinen Abgabe pro Kinokarte genährt wird. Damit fördern wir sowohl Ideen als auch die Produktion und den Vertrieb von Filmen sowie die Renovierung von Sälen.

Im Fernsehen gibt es auch so ein Förderprogramm.

Da habe ich institutionalisiert, daß 60 Prozent der Filme im Programm europäischer Herkunft sein müssen. Wenn wir solche Regeln heute nicht hätten, würden die Fernsehsender lieber amerikanische und asiatische Filme einkaufen. Heute beteiligen sich die Sender immer mehr an der Finanzierung von französischen Filmen. Sicherheitshalber haben wir im Gesetz eine Investitionsverpflichtung eingebaut: Ungefähr zehn Prozent des Umsatzes müssen für eigene Filmproduktionen ausgegeben werden. Ohne solche Ermunterungen werden die europäischen Filmemacher und -produzenten von der wilden Konkurrenz mit ausländischen Filmen und TV-Serien, die zu relativ niedrigen Preisen importiert werden, erdrückt.

Auf europäischer Ebene konnten Sie Ihre Fernsehquoten nicht durchsetzen. Bei der Musik hat Frankreich ebenfalls Quoten eingeführt. Ist das Resultat eine bessere Musik?

Auf gewisse Weise. Wenn man heimischen Künstlern Zugang zum Äther verschafft, favorisiert man das nationale musikalische Schaffen. Nicht alles, was gesendet wird, ist von großer Qualität. Aber das, was aus den USA kommt, auch nicht unbedingt. Ich mag das Wort „Quote“ nicht.

Er ist aber französisch. Im Radio gilt ganz offiziell die 40-Prozent-Quote.

Ich bin dagegen. Es geht um öffnen und multiplizieren.

Schmerzt es nicht ein bißchen, daß die Amerikaner so etwas nicht nötig haben?

Das ist ein anderes System. Das hat seine Originalität, die ist nicht übertragbar auf Europa. Wenn Europa die USA imitieren will, wenn es ihnen ähneln will, dann kann man die europäischen Staaten gleich den USA anschließen.

Ende der 80er Jahre war viel von europäischer Filmförderung und einem europäischen Kinopreis die Rede. Inzwischen ist das in den Hintergrund getreten. Gibt es überhaupt ein europäisches Kino?

Der europäische Film ist in der Krise, auch wenn es gleichzeitig Anzeichen einer Renaissance gibt, wie zum Beispiel in England oder in Dänemark, mit einem Regisseur wie Lars von Trier – das ist ein Genie. Aber eigentlich hat das europäische Kino nie existiert. Das europäische Kino sind nationale Kinos. Der Film ist eine Kunst, die universell sein kann und gleichzeitig lokal. Sehr lokal wegen der Inspiration. Sogar das amerikanische Kino ist in seinen Ursprüngen lokal: der Western zum Beispiel. Fellini ist auch lokal – zuerst kam für ihn Rimini, dann Italien. Das europäische Kino hat nie existiert.

Ist das ein Plädoyer gegen europäische Filmpreise?

Nein. Sie können sehr gut einen Wettbewerb zwischen den verschiedenen europäischen Cineasten veranstalten und Preise im Namen Europas verleihen. Gleichzeitig haben die Cinematographien der verschiedenen Länder, selbst wenn sie Unterschiede aufweisen, eine Menge Gemeinsamkeiten. Sie sind eng mit der Geschichte verbunden, sie sind lokalisierter als das amerikanische Kino, psychologischer, intimer und intellektueller. Auch wenn Sie keine Ahnung haben, woher der Film kommt, den Sie sehen, so können Sie doch sagen, ob er europäisch oder amerikanisch ist. Acht von zehnmal haben Sie recht.

Ein europäischer Preis, das ist ein Preis für einen Cineasten aus einem Land. Sehr gut. Aber es gibt reziproke Einflüsse. Es gibt eine Serie von heute amerikanischen Filmemachern, die Europäer waren und in die USA gegangen sind, um da Filme zu machen. Ein Beispiel ist Milos Forman. Er ist Tscheche geblieben und doch Amerikaner geworden. Diese Transplantation ist interessant. Ich bin für den Austausch und die Vermischung. Ich bin überhaupt nicht für die Protektion. Aber auch nicht für die Dominanz.

Es gibt ein objektives Problem, das Europa und den USA gemeinsam ist: die Krise, die auch zur Reduzierung der Kulturetats führt. In den USA tritt zunehmend Sponsoring in diese Lücke. Könnte das ein Vorbild für Europa sein?

Man kann nicht vergleichen. Jedes System hat seine Geschichte, seine Traditionen und seine Gesetze. Die USA sind ein riesiges Land mit einem immensen Markt und einer dominanten Sprache. Diese Einheit von Sprache, Territorium und Markt ist ein Vorteil und eine außergewöhnliche Chance für jede amerikanische Industrie – für das Automobil ebenso wie für das Kino. Unser Kontinent hingegen ist in kleine Länder fragmentiert.

In der Europäischen Union gibt es 23 Sprachen. Der einheitliche Markt, den wir geschaffen haben, kann einen positiven Effekt für die gewöhnlichen Waren haben, aber in der Kunst und im Kino gibt es eine sprachliche Barriere, da passiert man nur sehr schwer von einer Wirtschaft in die andere. Unser Reichtum, diese Vielfalt in Sprache und Kultur, ist gleichzeitig unsere Schwäche.

Sie sind jetzt fast vier Jahre in der Opposition. Sind Sie mit der Arbeit Ihres Nachfolgers, dem konservativen Kulturminister Douste-Blazy, zufrieden?

Da schweige ich lieber.

Sie haben sich aber bei anderer Gelegenheit schon geäußert.

Ich habe generelle Worte benutzt. In einem Jahr [wenn die Franzosen ein neues Parlament wählen; Anm. d. Red.] werde ich mehr sagen. Kommen Sie dann wieder.

Der Staat ist nicht mehr bereit, für die Kultur Geld auszugeben. Aber man muß der Kultur ein Budget geben. Statt dessen wird das Kulturbudget von Monat zu Monat verringert. Es bräuchte einen neuen Atem, Ideen, Geld, Elan.

Wollen Sie wieder Kulturminister werden?

Wenn wir im nächsten Jahr die Wahlen gewinnen, ist es nicht unmöglich, daß ich in die Regierung zurückkehre. In der einen oder der anderen Funktion. Interview: Dorothea Hahn, Paris