■ In Bulgarien verkündet Präsident Stojanow der Menge baldige Neuwahlen, in Serbien will Slobodan Milosevic den Wahlsieg der Opposition nun doch anerkennen: Die Bürger erobern die Straße und lassen sich nicht mehr abspeisen
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In Bulgarien verkündet Präsident Stojanow der Menge baldige Neuwahlen, in Serbien will Slobodan Milošević den Wahlsieg der Opposition nun doch anerkennen: Die Bürger erobern die Straße und lassen sich nicht mehr abspeisen

Beharrlichkeit ist Trumpf

Die Straße meldet sich zurück. Ende der achtziger Jahre wurde auf den Straßen von Leipzig, Prag und Bukarest, in Moskau und Budapest Geschichte gemacht. Danach blieben die Straßen und Plätze verwaist. Doch jetzt sind sie wieder da, die Massen, die sich die Straße nehmen, um ihren Protest gegen die Regierenden auszudrücken: in Belgrad, in Sofia, in Tirana.

Die Bilder gleichen sich. Es sind Menschen aller Altersklassen und aus allen Bevölkerungsschichten, die mit Phantasie und Freude die Plätze besetzen. Die Massen schieben sich vorbei an den Zentren der Macht und lassen die verbarrikadierten Herrschenden erzittern. Ihre Spontaneität und ihre politische Naivität sind zu Stärken geworden. Die Repressionsmittel versagen, die Polizisten sehen sich hilflos einer Welle von Freundlichkeiten ausgesetzt. Sie schlagen zu und müssen sich doch wieder zurückziehen. Die Regierenden verlieren mehr und mehr ihren Einfluß auf den Gang der Dinge. Die Masse diktiert das Geschehen.

Das Beispiel aus Belgrad, die Beharrlichkeit der gewaltlosen serbischen Demonstranten, beeinflußte die Demonstrierenden in Sofia. Das tägliche Ritual gab gerade durch die Wiederholung Kraft. Und zeigte, daß die Demonstrierenden sich nicht mehr abspeisen lassen. Daß die Oppositionsbewegung sich nicht spalten oder manipulieren läßt. Die Fernsehbilder aus Belgrad wurden in Sofia begierig aufgesogen und die Aktionsformen nachgeahmt.

Die Proteste in beiden Ländern wiederum haben die Albaner beflügelt. Die dort aufbrechende Militanz jedoch verweist auch auf die Unterschiede. Die Bewegungen sind trotz vieler Übereinstimmungen im äußeren Erscheinungsbild nicht loszulösen von der jeweiligen historischen Situation, in der sie entstanden sind. Und so sind ihre Erfolgsaussichten höchst unterschiedlich zu bewerten.

Daß die Finanzmanipulationen in Albanien möglich waren, daß viele Menschen an den Reichtum aus der „Pyramide“ glaubten, läßt Rückschlüsse auf die Unerfahrenheit der albanischen Bevölkerung zu. Es ging dabei nicht um Spielgeld, es ging um die Ersparnisse eines großen Teils der Bevölkerung, die diese den Finanzhaien zur Verfügung stellte. Daß die Aggressionen sich in Albanien gegen die Regierenden entluden und nicht vorrangig gegen die Finanzjongleure selbst, verweist noch auf die Hypothek des „alten Denkens“, der Staat habe die Verantwortung für die Misere, der Staat habe für die Verluste geradezustehen. Die Demonstranten forderten vom Staat ihr Geld zurück. Und bestätigen somit, daß die albanische Demokratie auf tönernen Füßen steht. Staat und Gesellschaft werden wie in alten Zeiten gleichgesetzt.

Es ist also keine Bewegung für die Demokratie, die in Albanien auf den Straßen ist. Mag sein, daß sich in ihr der Unmut über eine ganze Reihe gesellschaftlicher Probleme bündelt. Die Forderung nach Ablösung des Präsidenten oder auch der Appell an Saliha Berisha stärkt letztlich dessen Position. Und er ergreift die Möglichkeit, indem er die Leute zu entschädigen verspricht – ein Versprechen, das er niemals einhalten kann. Damit nimmt er die Pose des traditionellen Vaters ein, des Stammesführers, des unangreifbaren Potentaten. Und wird als solcher akzeptiert.

Es ist ein gemeinsames Merkmal der Gesellschaften, die vom Kommunismus in den Kapitalismus übergehen, daß zwar demokratische Institutionen wie Parlamente und Wahlen übernommen worden sind. Es ist jedoch ebenfalls ein Merkmal dieser Gesellschaften, daß sich die gesellschaftlichen Interessen noch nicht in dem Maße organisiert haben, wie das als Grundlage einer funktionierenden Demokratie nötig wäre.

Je weniger aber eine Gesellschaft in sich differenziert ist, je weniger Interessengruppen wie Unternehmerverbände und Gewerkschaften, wie Lehrerverbände und Medien, Kirchen und Verbraucherorganisationen, Menschenrechtsgruppen und Parteien miteinander konkurrieren oder einfach ihre gegensätzlichen Interessen artikulieren, desto größer ist der Spielraum für eine „Stimmungsdemokratie“. Die Stimmungsdemokratie wiederum bringt nicht nur Populisten wie Berisha in Albanien oder Jelzin und Lebed in Rußland hervor. Sie gibt auch Raum für gesellschaftliche Bewegungen, die aufgrund von Ideologien mobilisierbar werden.

In Serbien gelang es Slobodan Milošević Ende der achtziger Jahre, die gesamte Gesellschaft für nationale Ziele und gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. So wurden die Albaner des Kosovo von der serbischen Gesellschaft isoliert und in eine Apartheid-Situation hineindirigiert. Die ideologische Mobilisierung ermöglichte den Machterhalt für den kommunistischen Staatsapparat. Reformen, die in anderen sozialistischen Ländern schon Ende der achtziger Jahre durchgesetzt wurden, konnten im Rahmen dieser Stimmungsdemokratie durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien aufgeschoben werden.

Die Stimmung hat sich jetzt gewandelt. Die Bewegung auf den Straßen Belgrads, Novi Sads oder in Niš wendet sich gegen einen Machtapparat, der es versäumt hat, die Weichen in Richtung weiterer Demokratisierung zu stellen. Im Unterschied zur albanischen ist die serbische Gesellschaft schon weiter in sich differenziert; die ideologische Mobilisierung wird zunehmend überwunden. Die Leute artikulieren ihr Interesse, eine differenzierte und pluralistische Gesellschaft zu entwickeln. Die Forderungen der serbischen Bewegung sind demokratische, sie zielen auf den Umbau des politischen Systems als Voraussetzung für weitere gesellschaftliche Differenzierungsprozesse. So werden nicht nur freie Gewerkschaften gefordert, sondern auch aufgebaut.

Wie in Serbien sind es auch in Bulgarien vor allem die Mittelschichten, die sich von einer durchgreifenden Demokratisierung eine bessere Zukunft erwarten. Während in Serbien die Macht der Sozialisten seit 1990 ungebrochen blieb, hat die bulgarische Gesellschaft die Erfahrung eines Machtwechsels schon hinter sich. Noch vor wenigen Jahren jedoch hatte sie nicht den Mut, die notwendigen Weichenstellungen für eine Wirtschaftsreform vorzunehmen, und holte 1994 die Sozialisten zurück. Die heutige Bewegung auf den Straßen versucht diese Entwicklung zu korrigieren. Und die schon einmal gestürzten Sozialisten Bulgariens sind, so hat sich gezeigt, eher zu einem Dialog mit der Gesellschaft bereit als Slobodan Milošević in Serbien. Erich Rathfelder