Die Methoden der Bewegung

■ Spiellust sucht psychologische Glaubwürdigkeit: StudentInnen der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen spielen Ireneusz Iredyńskis „Leb wohl, Judas“

Ireneusz Iredyńskis (1939–1985) Stücke handeln von Gewalt. Sie sind, schrieb der Pole, der als 17jähriger Shooting-Star zunächst Gedichte, später auch Dramen, Drehbücher und Romane veröffentlichte, „Modelle einer Situation oder eines Problems. Eine Reduzierung ohne historisches, soziales und psychologisches Drumherum“.

Im Mittelpunkt seines bekanntesten Werkes, „Leb wohl, Judas“ aus dem Jahre 1965, steht die Auseinandersetzung mit der Frage des Verrates. Verrat nicht im Sinne von Heiner Müllers „Der Auftrag“ als Entscheidung gegen die revolutionäre Sache und für bedenkenlosen Genuß des privilegierten Lebens, sondern als letzte Zuflucht menschlicher Würde vor allseitig umfassender Gewalt.

Judas, kürzlich aus Regierungshaft entlassenes Mitglied einer Untergrundbewegung, gerät bei seinen eigenen Leuten in Verdacht, die „Bewegung“ und den „Chef“ unter der Folter verraten zu haben. Die Methoden der „Bewegung“, ein Geständnis zu erpressen, sind dieselben wie die der Machthaber: physischer Terror. Die Polizei erscheint, erschießt die Quäler, aber die Tortur geht weiter. Judas widersteht der brutalen Gewalt. Weder das auf den „Chef“ ausgesetzte Kopfgeld noch die Mißhandlung eines Mädchens, das er liebt, verleiten ihn zum Verrat. Erst zuletzt redet er — aus freien Stücken. Einige Monate später kehrt Judas an den Ort des Verrats zurück und erhängt sich.

Im Orphtheater zeigen StudentInnen aus dem zweiten Semester der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf ihre Projektinszenierung von „Leb wohl, Judas“. Wie Hühner auf der Stange drängeln sich 40 Zuschauer um die Spielfläche des Zimmertheaters, die sich zu einer Seite hin in ein transparentes Zelt öffnet (Bühne: Uwe Riemer). In der Regie von Paulo Alves Pereira präsentieren sich die jungen Leute als kraftvolle Spieler. Augen blitzen, Körper gespannt wie Schwungfedern, hohes Tempo. Fehlt nur das reflexive Moment.

Matthias Koeberlin als Judas, in Felljacke, schwarzem Grobzeug und punkigen Stachelbändern, ist beileibe kein Intellektueller, wie er Iredyński vorschwebte, eher ein edler Musketier des Königs. Während ihm die aufschießende Fröhlichkeit und die ausgelassene Arroganz liegen, mit der er zu Beginn dem Mädchen und seinem Mitverschwörer Johannes begegnet, mißrät ihm die weltabgewandte Ernüchterung, mit der der enttäuschte Idealist am Ende Selbstmord begeht. Sabine Urban als blasses Mädchen, gar nicht blaß, dafür vital und sehr von heute, findet nach der Liebesnacht mit Judas berührend natürliche Töne, mit denen sie die sonst dominierende gestische Anfängerroutine erfreulich unterläuft. Um so erschreckender, wenn auch das Mädchen sich am Ende als Polizeispitzel entpuppt.

Ein gutes Stück, treffliche Spiellust — es könnte ein starker Abend sein, traute sich der Regisseur eine typisierende, grobe Überzeichnung. Unlösbar jedoch wird die Aufgabe für die immerhin noch unerfahrenen Schauspieler, wenn sie ihren Figuren psychologische Glaubwürdigkeit verleihen sollen. Besonders Daniel Fries als Exboxer Johannes, deutlich geschrieben als Figur von schleppender Auffassungsgabe, kommt mit dem angestrebten Realismus nicht zurecht. Statt seine Lust an der halbdebilen Chargenrolle zu wecken, treibt Pereira ihn zu hohem Tempo, mit dem Fries die Figur nur verdecken, nicht erhellen kann.

So muß auch Alexandra Ulrich als revolutionärer Folterherr Petrus Zuflucht nehmen zu fanatisch glühendem Auge und verbaler Schärfe. Und Tilmar Kuhn in der schweren Rolle des Kommissars, der mit erschreckend einleuchtenden Argumenten Judas den Verrat an seinen Leuten schmackhaft zu machen versucht, bleibt trotz ungerührt grausamer Kälte die Überzeugungskraft des Gesinnungstäters mit den tatsächlich besseren Argumenten schuldig. Nikolaus Merck

Heute bis 9.2., 11.–14.2., 20 Uhr, Orphtheater, Sredzkistraße 64, 1.Hinterhof, 3.Etage