Die Bilder und die Körper

Wieviel Sex verträgt das Fernsehen? Im Digitalzeitalter fehlt dem Wunsch nach Grenzen die Adresse – dem Unbehagen an der Trivialisierung nicht  ■ Von Lutz Meier

Die Grenze ist hauchdünn und fast nicht zu bezeichnen. Wo sie beginnt, wo also der Sexfilm aufhört und Pornographie beginnt, ist dennoch genau festgelegt. Das haben Gerichte in ihren Entscheidungen, Jugendschützer, Prüfstellen und sogenannte Selbstkontrollen in ihre Richtlinien geschrieben. Was wir nicht sehen dürfen: Sex, der sich isoliert von anderen menschlichen Beziehungen vollzieht; der Menschen auf Reiz-/Reaktionswesen und Beziehungen auf Körper reduziert. Doch um das zu verhindern, genügt es mitunter, wenn das Paar sich zwischen zwei Nummern eine Bulette gönnt, wie Medienwächter Norbert Schneider unlängst ausführte. Auch verboten sind: „anreißerische“ Darstellungen und allerlei mit Tieren, Kindern oder Gewalt. Im übrigen gilt: Porno ist nur Porno, wenn das Gegenteil unhaltbar wird. „Pornographie“, so der Leipziger Strafrechtler Heribert Schumann, „ist und bleibt ein Werturteil.“

Mit den Grenzen fangen die Probleme an. Denn Sexualität kann man heute auch anders betrachten: Was, wenn ihr Wert gerade in der Reduktion aufs Körperliche bestünde? Wenn der Mensch auch ein Reiz-/Reaktionswesen ist? Was aus Jahrhunderten der Begrenzung von Stimulanzien blieb, hängt als traurig-unverbundener Regel-Rest im Globalisierungs- und Digitalisierungschaos.

Dabei scheint der Fall klar: Sexfilme sind Wichsvorlagen. Psychologen sprechen lieber von „Reizübertragung“. Doch während alle Beteiligten die Legitimation der Definitionsregeln in Frage stellen und dennoch fein zwischen Erotikfilm (viele Nummern, noch mehr Handlung), Sexfilm (Modell Bullette) und Pornographie ziselieren, sieht der Konsument (männlich ist er sowieso) die Sache instrumental. Und allgemein ist Pornographie nur der Jugend verboten. Ins Fernsehen jedoch darf sie nie, der Sexfilm aber möglicherweise. Die Definierer werden wichtiger.

Denn Sex ist im Fernsehen wohl das Ding der nächsten Jahrzehnte. Zuerst hat die Kanalvermehrung den Regelungswunsch gegenüber den Bildern obsolet gemacht, weil sie die Vorstellung vom Fernsehen als öffentlicher Veranstaltung zerstörte und auch ganz ohne Pornographie allerhand Obszönes und Triviales über die Satelliten blies: Von „Vera am Mittag“ bis zu „Verbotene Liebe“. Nun geht es weiter. Neben dem Sport wird nur das Vereinzelungsprogramm Sex den Konzernen jenen Markt öffnen können, der ihnen als der der Zukunft gilt: das digitale Bezahlfernsehen. Das bedeutet nicht freie Sexverbreitung – verschlüsselt ist es schon des Geldes wegen. Die technische Unsichtbarmachung der Programme dürfte bald die letzte wirksame Grenze vor dem Bildschirmsex sein. Die Gewalt- und Sexverhinderungschips, mit denen in den USA experimentiert wird, könnten am Ende Abnehmer zu ganz anderen Zwecken finden – etwa in China. Verzweifelt wird nur noch an Technologien und Definitionen gefeilt. Doch die Begrenzungstechnologien halten mit denen der Verbreitung nicht stand. Mit der globalen Verbreitung über Netze und Satelliten ist dem Begrenzungswunsch die Zieladresse entglitten.

Weil die Nummer mit den Nummern soviel verspricht, begehrten bei der Berliner Medienanstalt zwei britische Sexkanäle eine deutsche Lizenz. Sie wollten DF1 Lebenssäfte eingeben, dem Zahlstrauß von Leo Kirch, dessen Sprecher noch vor einem halben Jahr bekundete, so etwas sei nicht die Geschäftspolitik des Hauses. Doch trotz Jugendschutzfreigabe lehnten die Medienwächter am Montag die Lizensierung ab – aus Angst vor den (angeblich) „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ in ihren Beiräten – etwa Katholiken oder Landfrauen. Ebenso wirbt der Hamburger Zahlsender premiere derzeit mit Sexfilmen und dem Slogan „schärfer fernsehen“ verstärkt um Abonnenten. Auf einer Tagung, die der Sender am Mittwoch in Hamburg zum Thema veranstalte, war man sich schnell einig, daß die öffentliche Debatte über Sex im Fernsehen (etwa die Sorge der „relevanten Gruppen“) einen ganz anderen Unmut spiegelt. Der monströse Jugendschutz, so Hamburgs Mediendirektor Helmut Haeckel, der die Jugend vor TV- Sex derzeit besser als vor jeder Droge schütze, sei ein „Lückenbüßer“: „Er dient dazu, eine öffentliche Unbefriedigtheit mit Trivialität zu befriedigen.“ Jugendschutz, attestierte Andrea Urban, die Niedersachsens einschlägiger Landesstelle vorsteht, „wird instrumentalisiert, um eine überfällige Wertediskussion nicht führen zu müssen“. Nicht mehr um Grenzen geht es, sondern um die Umgangsformen gegenüber dem Angesicht der Massenwelt. Nachdem auch die jüngste Chance, das Thema Sexualverbrechen in eine mediale Dauerbeschallung zu verwandeln, von kaum einer Redaktion ausgelassen wurde, scheint klar: die News- und Infoformate, der Habitus des Boulevardmagazins, sie zeigen die Störung im öffentlichen Verhältnis zu Körperlichkeit in der Obszönität ihres geheuchelten Nachrichtenblicks weit stärker an als ein verschlüsselter Sexfilm nach Mitternacht.

Ähnliches gilt auch für die Verhältnisse von Geschlechterrollen. Geht es um die drohende Sexausstrahlung im Fernsehen, wird selbst ein CSU-Justizminister zum Feministen. Auf das Pornoausstrahlungsverbot im TV angesprochen, führte Bayerns Ressortchef Herrmann Leeb zur Aufrechterhaltung der Grenze die mögliche „Herabwürdigung von Frauen zum bloßen Sexualobjekt“ an.