Im Tal der Puppen

Träume aus der Welt des Schrotts: Die Berlinische Galerie zeigt eine Retrospektive des 1994 verstorbenen Environment-Künstlers Edward Kienholz  ■ Von Harald Fricke

Wenn man in Amerika übers Land fährt, begegnen einem mitunter seltsame Privatmuseen. Gleich neben dem Highway hat irgendein Farmer sein Grundstück umgepflügt und ist dabei womöglich auf die Überreste einer uralten Indianersiedlung gestoßen. Nun steht dort ein Blockhaus mit allerlei Werkzeugen und Grabbeigaben, vielleicht sind auch ein paar Büffelknochen unter den Fundstücken. Alles ist fein säuberlich beschriftet, in Vitrinen ausgelegt und mit dem Hinweis auf die historisch bedeutsame Stätte versehen. Manchmal hält tatsächlich jemand und schaut sich die obsessive Sammlung an. Auch originär US-amerikanische Folkkunst findet sich auf wundersame Weise am Straßenrand wieder: Grandma Moses verkaufte ihre naiven Landschaftsbilder neben selbstgemachter Marmelade noch 1951 an Urlauber auf der Durchreise.

Zu dieser Zeit war Edward Kienholz gerade aus Spokane, einer Kleinstadt im Bundesstaat Washington, nach Los Angeles umgezogen. Vorher hatte der 1927 geborene Sohn Schweizer Emigranten als Krankenpfleger, Gebrauchtwagenhändler, Manager einer Tanzkapelle und Schaufensterdekorateur gearbeitet. Zur Kunst war der Autodidakt eher zufällig gekommen, als er 1951 eine Rembrandt- Ausstellung in Minneapolis besucht hatte. Sein Kommentar: „Wenn das ein Rembrandt ist und der so eine große Nummer sein soll, dann habe ich ja vielleicht eine Chance.“ So träumen nur Amerikaner – immerhin war bis dahin Grant Woods Farmerikone „American Gothic“ künstlerisches Leitbild von Kienholz gewesen.

Wie sehr die Arbeiten des 1994 verstorbenen Environment-Artisten vom ländlichen Kunsthandwerk geprägt waren, kann man jetzt in der 40 Jahre umspannenden Kienholz-Retrospektive der Berlinischen Galerie im Martin- Gropius-Bau begutachten. Haushaltsschrott, Autowracks, Gipsfiguren, Sperrmüll und Kneipenmobiliar – jeder Skulptur ist das liebenswert sture Recycling anzumerken, das in ähnlicher Form vermutlich Millionen Heimwerker in ihren Garagen beschäftigt. Kienholz' Kunst ist fetischistisch, der Übergang zum rummeligen Trödelmarkt, von dem ohnehin die meisten Objekte stammen, bleibt stets fließend.

Kitschbastelei und Zwangscharakter

Schon am Eingang hängen 76 aufgereihte Kruzifixe, die sich aus Kinderwägelchen, abgetrennten Puppengliedmaßen und Jesus-Bildern zusammensetzen. Keine Niederung hat Kienholz ausgelassen, um den Zwangscharakter religiöser Bekenntnisse aufzuzeigen: Altarkunst als schmerzbeladene Kitschbastelei vom Weihnachtsbasar. „J.C.s führten die große Charade an“ entstand 1992 bis 1994, als letzte Gemeinschaftsarbeit von Edward und Nancy Reddin Kienholz, die bereits seit 1973 eine Produktionseinheit bildeten (auch Claes Oldenburg und Ehefrau Coosje van Bruggen treten mittlerweile als Künstlerpaar auf).

Nancy Kienholz war es, die nach seinem Tod 1994 die Retrospektive gemeinsam mit dem Kurator Walter Hopps und Jörn Merkert von der Berlinischen Galerie eingerichtet hat. Für Berlin kommt die Übersicht, die vorher im New Yorker Whitney Museum und dem Museum Of Contemporary Art Los Angeles zu sehen war, keineswegs unerwartet. Seit ihrem DAAD-Aufenthalt 1973 hatten die beiden diverse Großausstellungen, Installationen wie „Volksempfängers“ und „Art Show“ wurden von Museen angekauft. Eine 1982 für den Ernst-Reuter-Platz geplante Skulptur wurde allerdings nie ausgeführt: „The Berlin Fountain“ sah eine Autowaschanlage vor, in der ein weißer Mercedes zu Schrott geschrubbt werden sollte. Der Senat lehnte aus Kostengründen ab. Kienholz hat sich über diese Entscheidung ziemlich geärgert, ebenso über den Beschluß, seinen Beitrag für den Skulpturenboulevard 1987 zu verwerfen. Dort wollte er riesige Kondome von Baukränen aus mit Nadeln zum Platzen bringen – für den Künstler eine Metapher auf das Ost-West-Verhältnis.

Ed Kienholz mochte solche unmittelbar anschaulichen Spannungssituationen. Seit den „Relief“-Bildern 1956/57 beruhen die Mixed-Media-Arbeiten auf knappen Aussagen, für die er Sperrholz zusammennagelte und bemalte. „George Warshington in Drag“ zeigt eine Parodie auf den Feldherrn, von einem rotweißblauen Flaggenmuster gerahmt – wie das Gattertor einer Ranch im Mittelwesten. Damals war Kienholz Teil der Beat-Bewegung, manchmal schaute Allen Ginsberg auf seinen Eröffnungen vorbei.

Mit der Zeit wurden die Arrangements komplexer – „The Beanery“, „Art Show“ oder das Globetrotter-Karussell „Merry-Go- World“ (siehe taz vom 9.4. 96) füllen ganze Ausstellungsräume –, aber die Symbole blieben weiterhin so einfach übersetzbar, daß man selbst für Details die Interpretation mitgeliefert bekam. „Sie hatte eine funktionierende Uhr im Bauch, um die Zeit der Kunden zu kontrollieren“, erinnert sich Nancy Kienholz an „Fifi, a lost angel“ aus der Bordell-Installation „Roxys“: „Der Puppenkopf, den Ed ihr gab, scheint ihre eingeschlossenen Emotionen zu betonen.“

Die Wirklichkeit ist ein „Playboy“-Flipper

Natürlich macht ein solches 1:1-Erlebnis von Wirklichkeit einige Mühen, wenn es erst einmal von der Kunst zurück in Sprache übertragen worden ist. Niemand schaut gerne auf Kuhschädel oder gammelige Überröcke, nur weil von Alter und Verfall die Rede ist; und niemand möchte sich mit der Metaphorik gespreizter Frauenbeine auseinandersetzen, die Kienholz als Verzierung und Kritik an einen „Playboy“-Flipper geschweißt hat. In Amerika gibt es entsprechend vielschichtige Probleme mit der Kunst von Kienholz, die hierzulande bereits 1968 und 1972 auf der documenta vertreten war. Realismus gilt dort als Schönheitsfehler, den man mit der Malerei des abstrakten Expressionismus oder den nüchternen Formen der Minimal art eigentlich überwunden zu haben glaubte. Bei Kienholz fällt alles zurück in ein Stadium, wo Kunst wesentlich einer Geißelung gleichkommt: So wie in „Sollie 17“ sieht es in einem Heim aus, wo alte Männer trostlos eingepfercht an ihrem Glied herumspielen; oder der „Bärenstuhl“, auf dem ein pummeliger Plüschteddy sich an einer Mädchenpuppe vergeht. Wären die Exponate nicht in muffigen Flohmarktmaterialien gehalten und mit einer vergilbten Harzschicht überzogen, man würde wohl vor der rechtschaffenen Sorglosigkeit erschrecken, die Kienholz den Terror der Darstellung scheinbar erlaubt.

Frische Wunden hinterlassen

So aber sind seine Mutationen des Sozialen stets auch Zeugnis einer eingefrorenen Vergangenheit. Die silber angesprayten Vietnam-Soldaten des „Portable War Memorial“, die Splatter-Militärs der „Ozymandias Parade“ oder die reglosen Prostituierten in der „Hoerengracht“: Willkommen im Tal der Puppen. Ein wenig entschuldigend, doch erstaunlich einfühlsam schreibt David Ross vom Whitney Museum im Katalog, daß „die Werke der Kienholz' für immer Teil unserer Erinnerung sind“, weil sie „frische Wunden hinterlassen, Narben, die niemals verheilen. Mit einer starken emotionalen Kraft, die zeitgenössischer postminimalistischer Skulptur fehlt, erinnern uns die Kienholz', daß die hier vorgestellte Welt menschliches Leid nicht beheben kann, daß die Welt der Taten und die Welt der Bilder in einem Tanz gefesselt sind – und dennoch auf immer unvereinbar. Sie erinnern uns an die Grenzen der Kunst und an die Forderungen des Lebens.“ Und selbst ein marxistisch gewappneter Theoretiker wie Thomas McEveilly, der sonst vom Tod der Kunst spricht, weil sie nichts als unnütze Zeichen ihrer selbst produziert, schwärmt angesichts der stummen Elendskreaturen: „nostalgische Sehnsucht nach einer vorkapitalistischen Zivilisation und gleichzeitiges Streben nach einer postkapitalistischen Lösung“.

Seltsam nur, daß Mike Kelley oder Paul McCarthy momentan mit der gleichen gewaltsamen Verquickung aus Horror, Sex und stumpfer Banalität operieren, die schon Kienholz in seine Environments übertragen hatte. Mehr noch: Ähnelt die Kammer, in der die zerschlissene Figur des „State Hospital“ (1966) liegt, nicht den Psycho-Quadern von Damien Hirst? Oder war die Madame mit dem Kuhschädel im kabinettartigen Bordell „Roxys“ (1961/62) nicht sogar Role Model für Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“? Sicher kann man Kienholz leicht vorwerfen, daß er bühnenhaft, illustrativ und literarisch gearbeitet hat, wo doch Abstraktion als Pflichtübung für Moderne gilt. Aber auch das Gegenteil hat einige Reize, wie beim surrealistischen Meeting von Regenschirm und Nähmaschine auf dem Seziertisch.

Daß man diese Träume 120 Jahre nach Lautréamont noch bei Kienholz wiederfindet, ist konsequent, aber auch Teil des Problems. Selbst Jörn Merkert erklärt nicht ohne eine gewisse Melancholie, daß die Berliner Arbeiten von Ed und Nancy Kienholz nur in der Zeit der Mauer nachfühlbar waren und heute ein bißchen fremd wirken – wie all die Dinge, die man auf einem Speicher aufbewahrt. Oder im Depot.

Bis zum 31.3. im Martin-Gropius- Bau Berlin, Katalog 48 DM