Ödis Sieg ist vollkommen

■ Unerklärlich: Woher kennen Ödipusse die größten Geheimnisse ihrer Eltern?

Kennen Sie den? Fragt der Sohn: „Mama, was ist eigentlich der Ödipus-Komplex?“ Sagt die Mutter: „Ach, Ödipus-Schnödipus – Hauptsache, du hast deine Mama lieb!“ So was finden Sie lustig, nicht wahr!? Ich nicht. Über Ödipus-Witze kann ich nicht lachen. Denn ich bin ein Betroffener.

Ich kannte weder seine Augenfarbe noch seine Liebe zu Lego-Technik oder seinen Ekel vor Paprika. Er war noch gar nicht geboren, da legte er schon los. Regelmäßig, wenn ich mich zärtlich an den immens runden Bauch seiner werdenden Mutter kuschelte, setzte es eine ganze Serie von Tritten aus der Tiefe der Gebärmutter: Klein-Ödi trat seinen Alten! Er hörte erst auf, wenn ich das Ehebett verlassen hatte. Damit Mutter überhaupt etwas Ruhe bekam, richtete ich mir ein Notlager ein. Kaum auf der Welt, ein ganzer Prachtkerl, Stolz und Glück seiner Eltern, legte sich Ödi eine häßliche Schlafstörung namens „Dreimonatskoliken“ zu. Zuverlässig nachts um halb drei wurde er wach, schrie und mußte eine halbe Stunde lang in der Küche im Kreis herum getragen werden. Raten Sie mal, wer schleppen durfte! Genau! Und jetzt raten Sie, wo der Papa nachher erschöpft und wie ein Stein einschlief! Richtig: im Kinderbett. Statt an der Seite seiner Frau.

Das Kind wuchs und gedieh. Es lernte, Löffel runterfallen zu lassen, rote Beete auf die Tischdecke zu spucken und Überraschungseier zu zerlegen. Was für ein kluges Kind! Und siehe: auch dieses Kind lernte laufen. Das aber offenbar nur zu einem einzigen Zweck: Wenn sich die Eltern trotz Alltag und Ödi mal kurz und scheu umarmten, kam der Kleine angewetzt und schob sich dazwischen. Nebeneinander sitzen im Restaurant? Hand in Hand gehen im Stadtpark? Da war Ödi vor. Selbst seine allerbeste Freundin ließ er stehen, wenn er merkte: Da läuft was zwischen den Alten! Und wenn erst mal richtig was lief zwischen den Alten! Bis heute hat mir niemand erklären können, woher Ödipusse wissen, wann ihre Eltern sich anschicken, das zu tun, dem die Ödipusse ihre Existenz verdanken. Unabhängig von Tages- oder Nachtzeit kam Klein-Ödi zuverlässig im Moment aufflammender Leidenschaft zur Schlafzimmertür hineinspaziert. Tat harmlos. Wir taten dann auch harmlos.

Das Kind ist mittlerweile sieben. Das Kind hat ein wunderschönes großes Bett. Das Kind schläft durch. Gott sei Dank vobei sind die Zeiten, da an seiner Seite, wenigstens aber in seinem Zimmer ein Erwachsener die Gespenster der Nacht abhalten mußte. Herrlich! Die Eltern wittern Morgenluft. Endlich gehören wenigstens die Nächte wieder uns! Da, eines Nachts, es mag wohl drei Uhr sein, macht es tipp tipp tipp, der Kleine krabbelt zu uns ins Bett. Das sind ja ganz neue Allüren! Er legt sich zwischen uns. Wälzt sich und rumpelt und wühlt und schnauft. Bis die Mutter entnervt das Lager verläßt, um im Kinderbett weiterzuschlafen. Und wenige Minuten später spürt der Vater, wie Klein-Ödi sich davonschleicht. Schnurstracks der Mutter hinterher.

Ödis Sieg ist vollkommen. Der Alte ist ausgetrickst. Der antike Ödipus mußte noch seinen Vater, den thebanischen König Laos, erschlagen, um Mutter Iokaste ganz für sich zu haben. Die Ödis heute haben da viel subtilere Methoden. Ödipus-Schnödipus – das ist echt kein Witz! Burkhard Straßmann