Vom Dienst am Theater

Plötzliche Renaissance eines ausrangierten Begriffs: Berlins Kultursenator Peter Radunski liebäugelt für die Bundeshauptstadt mit dem Modell des „Nationaltheaters“. Unterstützung findet er nicht zuletzt bei den „Theaterlinken“  ■ Von Christian Semler

„Arme Deutsche! Ohne Hauptstadt ein Nationaltheater, ohne ein Nationalinteresse Patriotismus, ohne allgemeines Oberhaupt unser eigenes Tun in der Kunst erlangen?“ So der Seufzer des konservativen Theaterliebhabers und Staatsphilosophen Justus Möser im Jahre 1770. Voilà, heute ist das „Nationalinteresse“ erfüllt, es gibt ein einiges Deutschland, eine Hauptstadt, ein Oberhaupt, fehlt nur noch das Nationaltheater.

Um diesem Mangel abzuhelfen, hat Berlins Kultursenator Peter Radunski jüngst vorgeschlagen, die in der Berliner Mitte, quasi um den Regierungsbezirk gelagerten Theater- und Operninstitute, das Deutsche Theater, das Konzerthaus am Gendarmenmarkt, die Lindenoper und die Komische Oper, unter einer Generalintendantur zu vereinigen und als „Nationaltheater“ unter die finanzielle Obhut des Bundes zu stellen.

Die Idee hat Radunski, der sonst nicht zu artistischen Darbietungen neigt, wie das Kaninchen aus dem Zylinder gezogen – ohne Vorwarnung, ohne gelehrte Schützenhilfe, vor allem ohne vorherige Debatte. Radunski geht es natürlich vorrangig ums Geld. Das „Nationale“ an dem Theaterverbund will er notfalls wieder streichen. Er hat noch ein zweites Kaninchen in petto: die „Stiftung Hauptstadt Kultur“, frei assoziiert nach dem Vorbild der Stiftung Preussischer Kulturbesitz, deren Finanzierung sich der Bund und die (widerstrebenden) Länder teilen.

Dennoch ist der Gebrauch des Wörtchens „national“ in Verbindung mit dem Theaterbetrieb nicht nur einer womöglich kurzlebigen Laune des Kultursenators geschuldet. Das „Nationale“ als verbindliches Wertesystem, als identitärer Kitt, wird heute vom Regierungslager in Deutschland eingefordert, wenngleich „ohne Euphorie und Überschwang“ (W. Schäuble). Für die Nation gilt es Dienst zu leisten, „Dienst am Mitmenschen, Dienst an der Verteidigung des Rechtsstaates, Dienst an der Landesverteidigung“ (W. Schäuble) und jetzt auch noch – Dienst am Theater.

Die Idee des Nationaltheaters wurde im 18. Jahrhundert geboren und einem Bürgertum angetragen, das diese Idee nicht besonders mochte. An die Stelle der umherziehenden Schauspielergruppen, deren Prinzipale sich mit einem Sack voller Zoten und nichtsnutziger Späße dem Geschmack des „gemeinen Mannes“ andienten, sollten stehende Ensembles treten, mit auf Schauspielschulen ausgebildeten, gut besoldeten, wohlanständigen Mimen und mit einem Programm, das bewußtseinsbildend wirken sollte, ein Instrument der Öffentlichkeit für das kulturell erwachende, aber politisch ohnmächtige deutsche Bürgertum.

Original deutsche Schauspiele sollten geboten werden, der Unterschied der nationalen Sitten und Charaktere sollte sich, so Johann Elias Schlegel, in der Dramenliteratur niederschlagen. Denn, wie Justus Möser meinte, den Westfalen gehe der Sinn ab für die Affektiertheit „eines Operrettgen von Gretry“. Das Theater als moralische Anstalt wurde geboren.

Mit Lessing als Dramaturg startete in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts die Hamburger Entreprise zu ihrem nur drei Jahre währenden nationalen Höhenflug. Im Eröffnungsprolog hieß es noch mutig, man werde den „Mißgestalten strafloser Torheit den Spiegel vorhalten“ und „gekrönte Mörder schrecken“. Aber Lessings gute Absichten fanden nicht den Beifall des Publikums. „Dem Himmel sey gedankt“, schrieb der Journalist A. Wittenberg anläßlich des Endes der Entreprise, „daß unsere Bürger wichtigere Dinge als die Verbesserung des Schauplatzes [er meinte des Schauspiels; d.A.] beschäftigen.“

In den Jahren nach dem Ende des Hamburger Experiments wurden im Heiligen Römischen Reich noch mehrere „Nationaltheater“ gegründet, die zum Teil heute noch diesen Namen tragen. Aber das war bereits Etikettenschwindel, denn es handelte sich um Bühnen der Landesfürsten. Die Kameralisten hatten sich das Argument zu eigen gemacht, mit dem bereits Jahrzehnte früher die große Neuberin (vergeblich) die Hamburger für ein stehendes Theater zu gewinnen versucht hatte: Touristen würden angezogen, und alle könnten an den fremden Theaterfans verdienen.

Die Idee der sittlichen Bildung aber wurde ins Polizeiliche verschoben, in Gestalt einer allgegenwärtigen Zensur. So ordnete der Reichsfreiherr von Dalberg, Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, an, daß Schillers „Räuber“ in altdeutschen Kostümen aufzuführen seien, damit jeder Gedanke unterbleibe, es könne sich um einen zeitgenössischen Stoff handeln. Trotz der großen Wirkungen des Weimarer Theaters, trotz des Aufschwungs des Berliner Nationaltheaters in der Epoche der Stein-Hardenbergschen Reformen wurden die National-, eigentlich die Hoftheater zu affirmativen Anstalten, in denen den Besuchern Untertanentreue eingebleut wurde.

Die großen Neuerungen des Theaters und der Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von Wagners Weihespielen über das naturalistische Theater Otto Brahms bis zu Max Reinhardts imaginativ-poetischen Inszenierungen, gingen an den degenerierten Nationalbühnen vorbei. Das Deutsche Theater in Berlin, bis 1933 ein privater Betrieb, wurde zum Zentrum der Erneuerung, wo die liberale Bourgeoisie der Hauptstadt sich feierte und viele Arbeiter über die Freie Volksbühne eine bisher verschlossene Welt entdeckten.

Nach der Novemberrevolution und der Konsolidierung der Weimarer Republik wurden die vormaligen Berliner Hoftheater und -opern Institutionen des preußischen Staates. Die Opern und weitere Dependancen wurden einer Generalintendantur unterstellt, von 1926 bis 1945 versah die graue Eminenz Hans Tietjen, ein cleverer Organisator, das Amt. Die Sprechbühnen standen nach 1937 unter der Leitung von Gustaf Gründgens, der seit 1934 bereits das Staatstheater am Gendarmenmarkt leitete und den Nazis („Ich lebte nur der Schauspielkunst“) zu einer glitzernden Kulturfassade verhalf. Seinen Anpassungsleistungen wurde durch Klaus Manns „Mephisto“ ein Denkmal gesetzt.

Senator Radunski kokettiert mit der Revitalisierung dieser Art von Generalintendanz, wobei an die Stelle des verblichenen Preußen, eben unter dem Stern des „Nationalen“, der Bund treten soll. Aber dieser Organisationsvorschlag ist hohl. Mochten nach 1918 die preußischen Staatstheater auch eine beispiellose Renaissance erlebt haben, mochte die deutsche Theaterprovinz jahrzehntelang gebannt auf Berlin gestarrt haben, mit dem Untergang des Nazireiches veränderte sich das Verhältnis von Provinz und einstiger Metropole grundlegend. Nach dem Krieg entstand in der Bundesrepublik eine dezentralisierte, städtische Theaterkultur, die ihre provinzielle Herkunft abwarf und mindestens ein halbes Dutzend Theater von europäischer Geltung hervorbrachte. Selbst in der DDR mit ihrer zentralistischen Ausrichtung auf Ost-Berlin wurden einstige Provinztheater zu Rivalen der gehätschelten hauptstädtischen Bühnen. Dieser Prozeß der Pluralisierung ist abgeschlossen. Ihn umzukehren ist weder wünschenswert noch machbar. Daran ändert auch nichts, daß Radunski für sein „nationales“ Projekt Unterstützung von einem Teil der Theaterlinken erwarten kann. Als die Theaterhistorikerin Ruth Freydank im Interviewteil ihres Buches „Theater als Geschäft“ (1995) die Frage stellt: „Also ist der Begriff der Nationaltheater-Kultur doch wohl kein altmodischer?“, antwortet der Intendant des Deutschen Theaters, Thomas Langhoff: „Überhaupt nicht. Wenn man dieses schreckliche Wort Nation nicht in einem nationalistischen Zusammenhang sieht, dann ist es selbstverständlich ein progressiver Begriff, den es zu füllen gilt und für den wir eine große Verantwortung tragen.“

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