Scharmützel hinter den Kulissen

Rußlands Verteidigungsminister Rodionow redet Klartext und beschwört eine Apokalypse der Armee. Dahinter steckt die Absicht, notwendige Reformen hinauszuzögern  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Rußlands riesige Streitmacht befindet sich nicht in bester Verfassung. Ein Allgemeinplatz, den die russische Öffentlichkeit bislang mit Ratlosigkeit und Schulterzucken hinnahm. Dennoch ließ man sich nicht aus der Ruhe bringen. Wie schlecht es im einzelnen tatsächlich um die Armee bestellt ist, wissen nur Experten, die ihre Kenntnisse gewöhnlich für sich behalten. Die jüngsten Äußerungen von Verteidigungsminister Igor Rodionow, die Armee steuere in wenigen Monaten einem Kollaps entgegen, sorgte indes in den Medien für gehörige Unruhe. Rodionow malte ein äußerst düsteres Bild, wonach binnen kurzem auch der nukleare Verteidigungskomplex des Landes außer Kontrolle geraten könnte. Der Verteidigungsminister brach am Wochenende mit einer langgehegten Tradition: Er wurde konkret. Ob er seiner weitere Karriere damit einen Gefallen getan hat, bleibt abzuwarten.

Zwei Institutionen sind mit der Aufgabe betraut, die seit langem überfällige Armeereform einzuleiten. Neben dem Verteidigungsministerium befaßt sich Jurij Baturin, Vorsitzender des Verteidigungsrats, der direkt dem Präsidenten unterstellt ist, ebenfalls mit der Frage. Als sie sich am vergangenen Freitag gemeinsam der Presse stellten, wählten sie einen neutralen Ort: Sie trafen sich im Pressezentrum des Außenministeriums.

Seit Monaten üben sich beide Instanzen in psychologischer Kriegsführung. Baturin wirft dem Verteidigungsministerium vor, jegliche Initiative im Keim zu ersticken, an einer Reform schlichtweg nicht interessiert zu sein. Präsident Boris Jelzin fordert seit Jahren von der Armeeführung, Konzepte vorzulegen. Rodionows Vorgänger Pawel Gratschow ließ es trotz Lippenbekenntnissen ebenfalls an Initiative fehlen. Die Lobby der Armee, vornehmlich vertreten durch ihre mehr als 2.800 Generäle, schaute zunächst auf ihre eigenen Taschen, die Wehrfähigkeit war zweitrangig.

Offenkundig konnte sich auch Rodionow nicht durchetzen. Die angespannte Finanzlage, so argumentieren die Militärs, verbietet jede Umstrukturierung. Die Verteidigungsbereitschaft würde weiter sinken. Desgleichen bemängeln sie, Rußland fehle zur Zeit eine Militärdoktrin, die letztlich Voraussetzung sei, um die Armee funktional und zielorientiert neuzuorganisieren. Auf den ersten Blick scheint die Position der Profis nachvollziehbar.

Die Führung spekuliert allerdings darauf, daß sich das Verhältnis zwischen Rußland und dem Westen nach der Nato-Osterweiterung verschlechtert. Folglich bräuchte sie keine Kürzungen hinzunehmen.

Der Kreml, obwohl er mit aller Vehemenz und zu Recht gegen die Nato- Erweiterung zu Felde zieht, geht dennoch davon aus, daß Rußland keiner Bedrohung von außen ausgesetzt ist, die zusätzliche Verteidigungsanstrengungen erfordere. Er verlangt spürbare Einschnitte im Verteidigungsbudget.

Der gemeinsame Auftritt Rodionows und Baturins wurde, so munkelt man, vom Oberkommandierenden der Streitkräfte, Präsident Jelzin angeordnet. Mit dem Ziel Einmütigkeit zu demonstrieren. Das gelang nicht völlig. Schließlich soll der Verteidigungsrat dem Verteidigungsministerium in die Akten schauen. Solidarität will da nicht aufkommen.

Als Erfolg kann der Generalstab verbuchen, daß Jelzins Wahlversprechen, die Armee bis zum Jahre 2000 in ein Berufsheer zu verwandeln, erst einmal vom Tisch ist. Rodionows dramatischer Bericht zur Lage der Streitkräfte diente vor allem der Stimmungsmache, um seinem Ministerium eine Verschnaufpause zu verschaffen. Gerüchte besagen, daß der nächste Verteidigungsminister Jurij Baturin heißen könnte. Ein Jurist und kein General.