Am Zahltag sind die Kinder dran

In Polen geht es den Rentnern vergleichsweise gut  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Henryk Witkowski ist Rentner. Der hochgewachsene Mann könnte glatt als Model für italienische Schuhe oder als Abenteurer durchgehen: energische Gesichtszüge, umrahmt von weißem Haar und einem gepflegten Vollbart. Vor einigen Jahren verlegte er seinen Wohnsitz an die Masurische Seenplatte im Nordosten Polens. Dort besitzt er ein kleines Landhaus mitten im Wald. Nach Warschau kommt er nur, um seine Rente abzuholen, zum Arzt zu gehen oder einen seiner zahlreichen Gerichtstermine wahrzunehmen.

Witkowski versucht seit einigen Jahren, zumindest einen Teil des früheren Familienbesitzes zurückzuerhalten. Vor dem Krieg besaß die Familie im Zentrum Warschaus eine kleine Korkenfabrik und ein großbürgerliches Mietshaus mit 16 Wohnungen. „Heute darf ich froh sein, daß ich überhaupt noch in einer Wohnung meines Hauses wohnen darf“, so Witkowski ironisch. „Von meiner Rente kann zwar ich leben, aber wovon sollte ich meine Kinder unterstützen?“ Witkowski vermietet die Wohnung unter und kommt damit zusammen mit der Rente auf ein Monatseinkommen von knapp 2.000 Zloty (1.105 Mark). Damit liegt er nicht nur weit über der Durchnittsrente von knapp 600 Zloty (332 Mark), sondern auch über dem Durchschnittsverdienst von rund 890 Zloty (553 Mark).

„Wir Rentner sind nicht arm“, erklärt Witkowski und läßt sich in einen prächtigen Louis-quatorze- Stuhl fallen. „Arm sind unsere Kinder, vor allem dann, wenn sie auch wieder Kinder haben.“ Die letzten Armutsreporte für Polen, erarbeitet von der Weltbank, bestätigen Witkowski. Danach sind nicht etwa die Alten die Verlierer des Systemwandels und der Reformpolitik, sondern die von den Politikern so umworbenen jungen Familien mit zwei und mehr Kindern. Schlecht geht es auch den Arbeitslosen. Ganz am Ende der sozialen Leiter stehen alleinstehende Mütter. Rentner stellen gerade mal fünf Prozent der Armen.

„Die Mär von den armen Rentnern nützen wir natürlich aus“, gesteht Witkowski. Sie stammt aus den Jahren 1989 und 1990, als die Inflation auf über 600 Prozent stieg. Da war die Situation dramatisch. Die Rentner drohten zu verhungern. Jacek Kurón, der erste Sozialminister, richtete seine berühmten Suppenküchen ein und stellte sich höchstpersönlich an den Kochtopf. Politisch gelang es ihm, die Renten an die Inflation zu koppeln. Aber irgendwie hatte er einen Fehler gemacht. „Als ich meine erste ,Kurón-Rente‘ abholte“, erzählt Witkowski, „lag sie nur knapp unter meinem letzten Gehalt.“ In dieser Zeit entschieden sich Zehntausende von Polen, eine Früh- oder Invalidenrente zu beantragen. Dem Rentensystem drohte der Bankrott. Die staatlichen Zuschüsse stiegen auf jährlich über sechs Prozent des Budgets.

„Das ganze System ist schwachsinnig“, erregt sich Witkowski. „Meine Kinder müssen 47 Prozent ihres Einkommens – einschließlich des Arbeitgeberanteils – an die Renten- und Sozialversicherung abführen. Damit wird meine Rente finanziert. Und ich gebe meinen Kindern das Geld dann wieder, weil sie sonst vom Existenzminimum leben müßten.“

Das ganze Elend habe mit der Machtübernahme der Kommunisten angefangen, sagt Witkowski. Damals seien nicht nur alle Klassenfeinde enteignet worden. „Auch die Rentenansprüche der polnischen Bürger aus der Vorkriegszeit wurden hinfällig.“ Der Staat lieh sich mehrfach Geld bei der Sozial- und Rentenversicherung aus – zinslos versteht sich – und „vergaß“ dann die Tilgung. Die Bürger zahlten zwar weiterhin Beiträge ein, wußten aber nicht, wieviel das war, denn auf den Lohnzetteln wurde der Betrag nicht ausgewiesen.

„Anfang der achtziger Jahre begriff meine Generation, daß das System kollabierte und wir die ersten Opfer sein würden. Ich habe damals begonnen, antike Möbel zu kaufen, andere haben sich wertvolle Bilder zugelegt, wieder andere haben ihr Einkommen auf dem Schwarzmarkt in Dollar getauscht.“ Witkowski blinzelt listig: „Morgen ist Zahltag. Meine Tochter wartet schon auf die Rente.“