„Parallelen zu den 30er Jahren werden deutlicher“

■ Interview mit dem Pariser Historiker und Anthropologen Emmanuel Todd, der 1995 die Präsidentschaftskandidatur des Neogaullisten Jacques Chirac unterstützt hat

taz: Hat Sie das Ergebnis von Vitrolles überrascht?

Emmanuel Todd: Nein.

Seit wann haben Sie es erwartet?

Das ist immer dieselbe Geschichte. Wenn die Front National irgendwo gut abschneidet, wundert man sich, aber man weiß, daß es soziale, wirtschaftliche und kulturelle Spannungen in der französischen Gesellschaft gibt, die die Stimmen für die FN produzieren.

Beunruhigt Sie das Ergebnis?

Es ist beunruhigend, aber es ist nicht spektakulär. Wenn Sie alle Nachwahlen der letzten anderthalb Jahre nehmen, dann ist die Tendenz der Front National im Süden und in Frankreich im allgemeinen eine gewisse Stagnation. Es ist allerdings bezeichnend, daß Catherine Mégret dieses Mal das Ergebnis zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang noch verbessern konnte. Das könnte tendenziell eine gestiegene Akzeptanz der Front National bedeuten. Aber das heißt nicht, daß das Ergebnis von Vitrolles den Aufstieg der Front National auf nationaler Ebene vorbereitet.

Welche Lehren ziehen Sie aus der Wahl?

Die traditionelle Lektion über die Absurdität der französischen politischen Klasse. Rechte und Linke zerfetzen sich und weisen sich gegenseitig die Verantwortung für das Desaster zu.

Was sollten die Politiker tun?

Die Wahrheit ist, daß die Mehrheit der Franzosen die Zukunft wie ein schwarzes Loch sieht. Die regierende Klasse verspricht ihnen für die Zukunft mehr Anstrengung, mehr Rigorismus, mehr Arbeit und eine positive Handelsbilanz. Nur die „Hoffnung“ kann die Arbeiterklasse und die Mittelschicht vom schlechten Weg abbringen. Die normalen republikanischen Parteien müssen Lösungen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit vorschlagen. Aber dazu muß man auf das Europa in dem heutigen Konzept und auf die Maastricht-Kriterien verzichten. Aktuell haben wir die absurde Situation von einer in den Maastricht-Kriterien befangenen herrschenden Klasse, die immer neue Bedingungen für das Erstarken der Front National schafft. Das ist beunruhigend, weil die Parallelen zu den 30er Jahren immer deutlicher werden.

Parallelen mit Deutschland oder Frankreich?

Ich denke sowohl an die Deflation der Vorkriegszeit in Frankreich wie an die Brüning-Deflation in Deutschland. Ich denke an das Ansteigen des vorausgegangenen Faschismus durch die Erfahrung der Deflation und an eine konservative politische Klasse, die mit gutem Gewissen die Arbeitslosigkeit steigen läßt. Hinter jedem Faschisten steht ein schwachsinniger Konservativer.

Was halten Sie von der republikanischen Front aller Parteien gegen die Front National?

Es zeigt sich, daß das nicht mehr funktioniert. Anfangs war es natürlich richtig, daß alle demokratischen Parteien zusammenarbeiten, um den Faschismus aufzuhalten. Aber langfristig verstärkt das nur das Image der Front National als einziger Oppositionspartei. Die einzige richtige Strategie ist die Definition einer republikanischen Wirtschaftspolitik, die Lösungen vorschlägt.

Wo sind die französischen Republikaner mit Lösungen?

Kurioserweise gibt es gegenwärtig nur eine Partei, die eine mögliche Alternative vorschlägt. Das exakte Gegenstück zu Vitrolles ist der Nachbarort Gardanne, wo kürzlich ein Kommunist gegen die Front National gewonnen hat. Die KPF ist im Augenblick die einzige Partei, die nicht in der Maastricht-Falle steckt. Das macht sie glaubwürdig

Wie erklären Sie den Unterschied im Wahlverhalten zwischen Franzosen und Deutschen, obwohl es in beiden Ländern starke Widerstände gegen den Euro gibt?

Der Midi ist ein gutes Beispiel für die Tradition der spontanen Revolte, die in den populären Milieus in Frankreich existiert und die kein Equivalent in Deutschland hat. Die Front National ist gerade in den alten republikanischen Hochburgen besonders stark. Der Midi gehört zu den französischen Regionen, die traditionell in der Lage sind, sich den herrschenden Klassen und der Elite entgegenzustemmen. Das ist eine Folge des liberalen und egalitären Charakters der französischen Kultur. Die deutsche Kultur ist viel eher von Autorität geprägt, es gibt weniger Autonomie des Individuums gegenüber den traditionellen Apparaten. Aber es wäre ein tragischer Irrtum zu glauben, daß in den kommenden Jahren in Deutschland nichts Entsprechendes passieren könnte.