Die Generation Kassette in lässiger Wäsche oder: Keiner lügt mehr, wenn es um Sex geht

Nix mehr „Kuschelkurs“. Demnächst wird die taz volljährig und macht noch mehr Liebe. Aber wie ist es sexuell um den Rest der Jugend bestellt? Das Lebensgefühl brutzelt auf Sparflamme. Frauen träumen von Männern in Schiesser-Feinrippunterhosen mit Beinansatz, und Männer nehmen für ihre Angebetete höchstens noch eine Kassette auf  ■ Von Henning Jagoda

Was sexmäßig mit der Generation los ist? Keine Ahnung. Woher sollte man das wohl wissen? Das weiß man ja noch nicht einmal von sich selbst. Ich jedenfalls nicht. Daniela weiß alles. Sie hat so viel erlebt: „Wenn die Leute mal mehr Sex haben würden, wäre alles besser. Jungs, ihr müßt mal mehr ficken! Ihr fickt einfach zu wenig.“ Daniela hat gut reden. Wir befinden uns in den neunziger Jahren, und das meint: Instead of peace or revolution, we got Aids and Whitney Houston.

Wie Daniela und alle anderen in unserem Alter beziehe ich mein gesamtes Wissen über den Spiegel. Der stellte in seiner Spiegel-Special-Ausgabe „Die Eigensinnigen“ (November 1994) 2.034 repräsentativ ausgesuchten Jugendlichen zwischen 14 und 29 Jahren in Form von Face-to-Face-Interviews unter anderem die Frage: „Würden Sie mit der Freundin Ihres besten Freundes beziehungsweise mit dem Freund Ihrer besten Freundin schlafen, wenn Sie sicher sein könnten, nicht erwischt zu werden?“ Dann haben sich Befrager und Jugendlicher in die Augen gesehen, und heraus kam: Einer von Hundert wußte es nicht, 14 würden, 86 nicht. Bei der Frage „Was ist für Sie das Wichtigste im Leben?“ steht in der Umfrage Sex an neunter Stelle. Wenn das wahr ist, hab' ich wirklich die falsche Generation am Hals. Was könnte denn besser sein als Sex mit der Freundin des besten Freundes? Na ja, kommt auf die Freundin an.

Die Leute schlafen heute lieber unter sich

Aber Daniela hat schon ziemlich recht. Mal spekulieren: Die Leute schlafen heute lieber unter sich – zu Hause. Draußen ist soziale Kälte, Extremismus, Fasching, liberale Reklame, dann und wann Feueralarm, die anderen, Basic Instinct, nichts los, der König Kunde und so weiter.

Drinnen sind die Wege nicht so lang, drinnen sind überhaupt die Mittel und Wege, drinnen kann man sich vormachen, was man will, drinnen kann man allein sein oder nicht, drinnen ist der Morgen danach so wie immer, drinnen brutzelt das Lebensgefühl auf Sparflamme, und das alles in der Hand ist besser als sonst wer Tolles auf dem Dach. So sieht es aus mit der Generation. Wer weiß? Vielleicht.

Und dann sagt Daniela: „Die Leute schlafen nicht mehr auf Anhieb miteinander. Die schmachten alle so vor sich hin, das kommt mir so vor, als würde denen das genügen.“ – „Die Situation ist ja aber auch nicht so toll. Niemand mag sich noch amüsieren. Alle wissen, daß sie klüger sind als der alte Rest, daß alles besser sein könnte. Aber weil sie wissen, daß sie nichts tun können und daher nichts zu tun haben, haben alle irgendwie Langeweile und Kummer.“ – „Und Visionen haben sie auch nicht.“ – „Genau. Und deswegen sind sie bedrückt, und wenn man bedrückt ist, will man keinen Sex. Man guckt in die Zeitung und fängt an zu weinen.“

Die meisten jungen Leute, mit denen man über Sex redet, tun das nur, um sich später nicht vorwerfen lassen zu müssen, sie seien in dieser Beziehung problematisch. Dann reden sie super aufrichtig und verraten für nichts kostbare Intimitäten. Sie vertrauen dir alles an, damit man sie für „sexuell frei“ hält. Keiner lügt mehr, wenn es um Sex geht. Weder im Fernsehen noch am Tresen. Alle wissen über Sex Bescheid. Alle finden Sex irgendwie süß oder o.k. Die Leute in der Spiegel-Umfrage würden bestimmt sagen: „Nein, nein, Sex ist schon wichtig.“ Alle haben sie irgendwie Sex, aber verklemmt sind sie trotzdem. Daniela bestimmt auch. Ich sowieso.

Daniela und ich machen eine Pause, um uns die übrigen Leute anzusehen, und zwar mit dem vereinbarten Auftrag, jedem ein Sexualleben zu unterstellen und es sich auszumalen. „Es ist, wie ich dachte – es ist schrecklich.“ Daniela seufzt.

Sie verraten für nichts kostbare Intimitäten

Mir wird die Geschichte langsam langweilig. Die werden schon glücklich sein. Was geht mich das an? Ansonsten bleibt schätzungsweise alles, wie es immer war: Über Sex kann man nicht reden. Ficken sagt mehr als Worte und nichts über die Generation um uns herum. Ein unschlagbares Fazit.

Ja, und wie wir da so sitzen und ich mein Fazit an meinem inneren Auge wie einen Abspann immer und immer wieder vorbeiziehen lasse, springt die Tür auf, und Tatjana „swingt“ zu unserem Platz: „Frauen sind die besseren Liebhaber!“ Tatjana stellt ihre Handtasche ab, bestellt und redet für die nächsten zehn Minuten: „Das hat sich nämlich geändert. Jungs bringen es höchstens noch dazu, dir eine Kassette aufzunehmen, wenn sie etwas von dir wollen. Schlapp. Frauen sind leistungsorientierter, auch beim Sex auf Drogen. Für Jungs ist das vielleicht der I-Punkt auf dem perfekten Trip. Außerdem sind sie in Sachen Sex nur noch dankbare Empfänger.“

Tja, wenn sie das sagt. Jungs werden eigentlich immer schwach, aber „immer“ kommt immer öfter ganz, ganz selten vor. Das liegt daran, daß man Kondome a) kaufen muß, b) dabei haben muß, c) anziehen muß, d) ausziehen muß, e) entsorgen muß, f) rational einsetzen muß, g) irgendwie mögen muß. Muß, muß, muß. Gibt es eine bessere Methode, unsexy und lethargisch zu werden?

Tatjana hat sich wirklich gut vorbereitet: „Sex ist heutzutage wie Mode. Erlaubt ist, was gefällt. Alles geht. Da kommt ein Typ rein, du denkst ,oh, der sieht aber lecker aus‘. Dann spricht man mit seiner Freundin, redet kurz über seinen Hintern – wenn man ihn überhaupt sehen kann, was manchmal ziemlich schwierig ist, dann muß man eben auf die Augen oder so achten –, und dann geht alles schwuppdiwupp. Und wenn bei ihm zu Hause auch noch die Face rumliegt und Seiten herausgerissen sind, er Schiesser-Feinripphosen mit Beinansatz trägt, hach, sein Schwanz groß ist – zu groß ist schlecht, denn das wäre unschön –, ist alles wunderbar.“

„Und wenn er Schiesser mit Beinansatz trägt...“

„Nein, nein, Tatjana, so ist es ja nun nicht.“ Ich will Tatjana korriegieren, ich will ihr sagen, daß die Männer die Hefte in den Händen haben, und verliere gleich darauf schon wieder die Lust: „Nach wie vor gucken Typen auf die Brüste, wobei große Brüste wirklich besser sind, und wenn du glaubst, Jungs würden dich nach deinen Klamotten aussuchen, aussuchen tun sie dich auf jeden Fall, kannst du ja gleich Freundin abonnieren.“ Das war natürlich Unsinn, weil das mit dem „auf die Brüste gucken“ bestimmt in der Freundin steht und eben nicht, daß Typen auf die Klamotten von Frauen achten.

Aber glücklicherweise schaltet sich Daniela wieder ein, und ich muß mich nicht länger mit Tatjana befassen, die ich nicht mag, weil sie mir immer die Tür zuschlägt, noch bevor ich geklopft habe: „Und das mit den Unterhosen ist wirklich schlimm. Calvin Klein sucked! Noch was: Die Haare sind seit den Achtzigern kürzer geworden.“ Das kann man ja sehen.

Und dann gehen wir nach Hause. Jeder in sein eigenes Zuhause. Sie können sich ja vorstellen: Es regnet, und ich bin keinen Schritt weitergekommen. Aber plötzlich, so angenehm hell, erscheint vor meinem inneren Auge die Strategie. Es soll nichts weiter sein als lässig. Nicht wichtig, nicht schlecht, nicht kompliziert, nicht von irgend jemandem gewollt, nicht für irgendwas gut, nicht toll, nicht schlecht, nicht bedeutend, nicht erwähnenswert, nicht unvergeßlich, keine Handys, keine Termine, kein tolles Parfüm, keine Extras, nur vielleicht eventuell irgendwann mal zwischendurch, von mir aus sofort, aber gar nicht ist auch lässig. Alles und „es“ sollen nur lässig sein. Das war schon immer so gemeint.

Lässiges müdes Gespräch am Anfang, lässiges Anfassen von lässig geformten Körperzonen, lässig bedeckt von lässiger Wäsche, lässiges Nachhausegehen auf lässigen Routen, lässiges Miteinanderschlafen, lässiges Atmen – Stöhnen – Klagen – Kreischen – Jammern – Quietschen – lässiges usw., lässiges Aufwachen, Angucken, Weggucken, Aufstehen, lecker Frühstück mit einer lässigen Tageszeitung und einer lässigen Zahnpasta im Mund, lässiges Verabschieden mit lässigen Verabredungen und Sprüchen, die von mir aus der Luft gegriffen sein können oder irgendwas signalisieren, das ist nicht so wichtig, lässige Erinnerung, lässiges Wiedersehen. Das einzige, worauf es ankommt, ist: Komm lässig!