■ Schlagloch
: Alle Deutschen, alle Berliner, alle ich Von Nadja Klinger

„Seit ich euch kenne, bin ich verstopft.“ Valerie in

„Rossini“, der neuen

Komödie von Helmut Dietl

Ganz Deutschland, das vereinigte, das entzweite, braucht etwas zum Lachen. Es wartet auf die große deutsche Komödie.

Ich warte mit ihm. Nicht wirklich, aber sehnsüchtig. Ich rätsele mit ganz München, wer im Film wer in der Wirklichkeit ist. Ich stehe mit ganz Berlin nach Karten an. Das ganze Kino ist aus dem Häuschen, bevor die Vorstellung überhaupt beginnt. Und ganz am Rand, da sitze ich. Dann sitzt Valerie aschfahl auf dem Klo. Sie hat, was viele Frauen sich wünschen: von gleich zwei Männern jeweils das Beste und, wenn sie es so einfädelt, vor gleich zwei Männern ihre Ruhe. Sie hat alles. Doch sie ist nicht glücklich. Sie hat Schmerzen. Sie ist verstopft. Sie sitzt auf dem Klo und versucht verzweifelt, von dem Mehr als genug etwas aus sich herauszudrücken. Da gluckert es im Kino. Die große deutsche Komödie schlägt ein. „Der Film ist zum Brüllen, weil er stimmt“, schreibt mein Lieblingskritiker.

Die Ostdeutschen führen ein ausgeprägtes Gruppenleben. „Sie bewegen sich in Horden, obwohl sich doch herumgesprochen haben müßte, daß es doch ergiebiger ist, den Weg zur Tränke allein einzuschlagen“, hat Daniela Dahn unlängst in der taz festgestellt. Jeder Westdeutsche hingegen kann etwas, was der andere Westdeutsche neben ihm nicht kann. Er ist sogar in der Lage, daraus Kapital zu schlagen.

Mit diesem ganzen Kapital machen die Westdeutschen dafür nicht so guten Sex. Oder machen die Ostdeutschen Sex in Horden, weil sich herumgesprochen hat, daß das ergiebiger ist? Ich habe in den letzten Jahren so viel gehört und gelesen, daß ich mittlerweile alles durcheinanderbringe. Jeden Tag erfahre ich Neues darüber, wie ich bin. Seit voriger Woche weiß ich, daß ich mich lieber mit einem Hund unterhalte als mit meinen Mitmenschen. Ein Historiker legte das im Rundfunk ausführlich dar. Diese Neigung, erklärte er, sei seit Friedrich II bis in die heutige Zeit vererbt worden. „Die Deutschen“, klagte der Historiker, betrieben mit ihrer Zuwendung zum kläffenden Vierbeiner die „Enthumanisierung der Gesellschaft“.

Das ist noch nicht alles über mich. Ich habe ein neues Selbstbewußtsein (Die Woche). Ich bin nicht so zufrieden wie die in Cottbus, habe aber auch nicht solche Lust an der Niedergeschlagenheit wie die in Potsdam (Spiegel). Jedenfalls hat der Westen als Vorbild bei mir ausgedient (Wochenpost). Natürlich ist meine DDR-Seele in der Klemme. „Sie muß sich den Erfolg des Kapitalismus wünschen, um am ersehnten Wohlstand zu partizipieren. Und gleichzeitig muß sie sein Scheitern herbeisehnen, um mit der eigenen, der sozialistischen Biographie, recht zu behalten.“ (Spiegel) Und die Globalisierung hat mich entwurzelt. Deshalb spreche ich wieder Dialekt. Sächsisch schafft mir ein Gefühl von Heimat (dpa). Schließlich bin ich in der Stadt, in der ich seit 31 Jahren lebe, nicht zu Hause. Ich kapituliere täglich vor ihr. Ich weiß nicht, was ich befürchten muß (Berliner Zeitung).

Obwohl ich eigentlich nichts zu befürchten habe. Ich bin doch gar nicht richtig da. Denn ich bin alle: alle Frauen, alle Mütter, alle aus dem Prenzlauer Berg, alle Berliner, alle Ostler, alle Deutschen. In so gut wie jedem journalistisch aufbereiteten Problem werde ich so geschickt in der Masse verarbeitet, daß ich immer mal auftauche, bevor ich gleich wieder untergehe. In Form von Statistiken, Analysen, Essays wird endlos über mich gemutmaßt, prognostiziert und debattiert. Und wer das bitter nötig hat, soll auch noch ich sein. Ich bin die gescheiterte und die hoffnungsvolle deutsche Einheit zugleich.

In Wirklichkeit aber scheitert jemand anders. Jemand, der nicht in Betracht zieht, daß es durchaus hoffnungsvoll ist, wenn man sich entzweit vereinigt. Aber dieser Jemand ist Journalist, und Betrachten ist in der Regel nicht seine Sache.

Es gibt in unseren Zeitungen nicht viele unverwechselbare Geschichten, mühevolle Analysen und belangvolle Gespräche. Vielleicht ist da ja ein Problem. Aber der Journalist erfaßt es nicht. Er trägt es nur auf den Markt. Er verkauft bunte Waren.

Der Journalist, der Autor, der jedes konkrete Problem in einer Tendenz und jeden Menschen in der Masse verschwinden läßt, kann nichts falsch machen. Eine Zeitung liebt ihre Leser, vor allem wenn es viele Leser sind. Manfred Bissinger, der Herausgeber und Chefredakteur der Woche, der kürzlich auch die Leser der verstorbenen Wochenpost in sein Herz schließen konnte, will einen „neuen Anlauf“ nehmen, „den publizistischen deutsch-deutschen Dialog erneut zu beleben“. Wo war er denn hin, der Dialog? Die Zeitung hatte über „gegenseitige Befindlichkeiten“ informiert und informiert und infor... Da ist der Dialog untergegangen. Jetzt sollen sich Bissingers Leser „intensiver denn je“ informieren und sich „kritisch damit auseinandersetzen“. Vielleicht sollten sie sich mal zusammensetzen. Aber alle – das geht natürlich nicht.

Schließlich geht es im Journalismus sowieso nicht darum, daß sich etwas verändert. Es geht um die Zeitung für ganz Deutschland oder um die Zeitung von Ostlern für Ostler. Dafür werden Journalisten gebraucht, die nicht an dem ein oder anderen hängen. Und westdeutsche Chefredakteure, die bessere Ossis geworden sind als viele, die als Ossis geboren wurden. Es geht um Farbe, um Effekte, um Emotionen. Es geht ums Ganze. Kurioserweise haben wir in der DDR, wo eine Zeitung nichts konnte, vornehmlich darüber geredet, was eine Zeitung kann. Hinter unserem Gerede steckten viel Ideologie und viel Illusion. Jedenfalls aber auch die Gewißheit, daß Öffentlichkeit eine Voraussetzung für Kultur sein könnte. Kurioserweise können die Zeitungen jetzt was. Sie haben Macht, sie haben den Platz zu vergeben, den die Öffentlichkeit für ihre Klärungsprozesse braucht. Daß Zeitungen eine Voraussetzung für Kultur sein könnten, ist jedoch nach wie vor nicht mehr als eine Gewißheit.

„Es gibt in Deutschland ein sichtbares Defizit an echter, vitaler Debattenkultur“, stellte der Chefredakteur der Berliner Zeitung kürzlich fest. Weiß er, mit wem er redet, wenn er schreibt? Mit den Lesern? Mit den Ostberlinern? Mit allen Berlinern? Mit den Deutschen? Auf jeden Fall mit zu vielen Leuten als mit zu wenigen. Eine Zeitung, die viel kostet, muß viel einbringen. Da bleibt keine Zeit für Federlesen.

Ich – Deutsche, Berlinerin, ich –, „naiv und von kindlicher Vorstellungskraft“ (Berliner Zeitung), werde mich an den großen Debatten nie beteiligen können. „Bitte schreiben Sie mir, was Sie darüber denken“, fordert mich Manfred Bissinger in seiner Zeitung auf.

Ich sehe mich um. Bin ich gemeint? Als was soll ich antworten? Als das deutsche Problem? Als die deutsch-deutsche Hoffnung? Ich weiche der Hundescheiße aus. Die Enthumanisierung läßt sich von mir nicht aufhalten.

Seit ich alles haben kann, bin ich verstopft. Ganz Deutschland, ganz Berlin und München drücken auf den Darm. Ich habe Schmerzen. Ich überlege, wann ich mich das letzte Mal mit einem Hund unterhalten habe. Das ist zum Brüllen.