Albanische Stadt verjagt ihre Polizei

■ Demonstranten zünden den Sitz der Regierungspartei in Vlore an. Tirana verhängt den Ausnahmezustand

Vlore (AFP) – In der albanischen Hafenstadt Vlore haben gestern Demonstranten die Polizei aus der Stadt vertrieben. Zuvor hatte eine wütende Menge aus Protest gegen die Erschießung eines Demonstranten den örtlichen Sitz der Regierungspartei angezündet. Zwei Häuser und zahlreiche Bäume standen in Flammen, die Feuerwehr griff ebensowenig ein wie die Sicherheitskräfte. Nach Angaben eines Korrespondenten legten die Polizisten ihre Uniformen ab und flohen in Zivil. Auch auf den umliegenden Hügeln, wo sich in den vergangenen Tagen bewaffnete Soldaten postiert hatten, war niemand zu sehen. Die Demonstranten machen die Demokratische Partei von Präsident Sali Berisha für den Zusammenbruch dubioser Finanzgesellschaften mitverantwortlich, bei denen sie ihre Ersparnisse spekulativ angelegt hatten.

Mindestens 30.000 Demonstranten zogen gestern mit dem offenen Sarg des 30jährigen Artur Rustemi durch die Straßen und versammelten sich schließlich auf dem zentralen Platz der Stadt. Dort hievten sie den Sarg auf das Unabhängigkeitsmonument. Die Beerdigung fand anschließend auf einem Friedhof außerhalb der Stadt statt. Dabei riefen zwei Oppositionelle zur Fortsetzung der Proteste auf. Einer von ihnen forderte die Einwohner auf, gewaltfrei Widerstand zu leisten. „Werft Blumen statt Steine“, sagte er. Vlore, eine Adriastadt mit 70.000 Einwohnern, hat eine lange Tradition des Widerstands gegen die Behörden in Tirana.

Bei den schwersten Ausschreitungen in Vlore seit Beginn der Protestwelle vor sieben Tagen waren am Sonntag und Montag drei Menschen ums Leben gekommen und mindestens 150 weitere verletzt worden. 16 Menschen lagen gestern noch in einem örtlichen Krankenhaus, rund 20 weitere waren mit schweren Verletzungen nach Tirana gebracht worden. Zwei Männer erlagen den Folgen eines Herzinfarkts. Für die Erschießung von Rustemi machten die Demonstranten die Polizei verantwortlich. Das Innenministerium veröffentlichte demgegenüber gestern eine Erklärung, wonach der Mann von einer Kugel aus der Menge getroffen worden sei.

In der Hauptstadt Tirana löste die Polizei gestern eine Solidaritätsdemonstration für Vlore auf. Rund 150 Menschen hatten sich dort auf dem Skanderberg-Platz versammelt, als sie von Polizisten in Seitenstraßen abgedrängt wurden.

Das albanische Parlament beriet unterdessen über die Verhängung des Ausnahmezustandes über Vlore. Die Annahme des Sondergesetzes gilt als sicher, da die regierende Demokratische Partei über 122 der insgesamt 140 Parlamentssitze verfügt. Ministerpräsident Alexander Meksi hatte am Montag abend erklärt, die „verfassungsgemäße Ordnung“ müsse verteidigt werden. In Vlore herrsche eine „außergewöhnliche Situation, die außergewöhnliche Maßnahmen“ erfordere.

Die Proteste geprellter Kleinanleger in Vlore hatten am 15. Januar begonnen. Die Demonstranten verlangen die vollständige Rückzahlung des Geldes, das sie durch den Ruin unseriöser Anlagefirmen verloren hatten. Berisha hatte die Demonstranten am Montag zur Zusammenarbeit mit der Regierung aufgerufen und die Bildung einer aus betroffenen Anlegern zusammengesetzten Untersuchungskommission vorgeschlagen.

Der Exkommunist Berisha war 1990 Mitbegründer der regierenden Demokratischen Partei, 1992 wurde er zum Präsidenten gewählt. Nach massivem Betrug bei den Parlamentswahlen vom Mai vergangenen Jahres forderten die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie das Europaparlament eine Wiederholung der Wahl, was Berisha jedoch ablehnte. Bericht Seite 9