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: Der Brustkrebs

Über das opulente Buch „Jews/ America/A Representation“ von Frédéric Brenner schreibt die FAZ (auf ihren gekalkten Seiten): Mit seinen äußerst aufwendig inszenierten Bildern versuche der Fotograf der Identitätsfalle zwischen Schtetl und Auschwitz zu entkommen „und zwischen Assimilation und Selbstbehauptung der amerikanischen Juden eine Vielfalt von gelebten Möglichkeiten vorzustellen. Die Überlebenden sind repräsentiert durch eine Gruppe von Brustkrebsoperierten.“

In der taz steht (merkwürdigerweise unter „Gurke des Tages“): „Aus Angst vor Brustkrebs haben sich zwei gesunde Britinnen ihre Brüste entfernen lassen.“ Schon die Mutter und Großmutter der 26- und 28jährigen waren an Brustkrebs gestorben. Ärzte hatten ihnen nur eine „50-Prozent-Chance“ gegeben. Die Operationen wurden auf Kosten der staatlichen Gesundheitsbehörde vorgenommen. Gleichzeitig greift nahezu weltweit – und parallel zur „Globalisierung“ – eine nicht minder metastasenhafte Brustvergrößerungswelle: via Film und Fernsehen und mit entsprechenden Hardcore- und Kioskmagazinen. In Deutschland gibt es nicht weniger als 18 „Special Interest“-Titel – mit Namen „Super-Busen“, „Big Tits“ etc. In Amerika wurden gerade 400.000 Frauen von einer Firma, die „Silicon-Cushions“ zur Brustvergrößerung herstellt, aufgefordert, Schadenersatzansprüche zu stellen. Und nicht zufällig heißt die absurd-reale Verortung aller positiven Mittelklasse-Utopien „Silicon Valley“! Hier empfehlen Ärzte das Silikon „nur noch“ Brust(krebs)-amputierten Frauen.

Im Zusammenhang der Entwicklung der europäischen Intelligenz aus der sich assimilierenden jüdischen Diaspora heraus fällt auf, daß in dieser „Szene“ – genaugenommen bis zum nationalsozialistischen Spießer-Tabula-rasa – die Brust schon mal im Zentrum einer Krankwerdung stand, die mit einer Art Selbst- Amputation einherging: die „Schwindsucht“ genannte Tuberkulose, die geradezu zum Signum der emanzipiert, jedoch unbequem leben müssenden männlichen „Intelligenz“ wurde. Das Wort „Intellektueller“ wurde im übrigen mit dem erfolgreichen „Offenen Brief“ Emile Zolas – im Zusammenhang mit der Dreyfus- Affäre – 1889 geprägt. In Deutschland sprach man bis auf die Kommunisten lieber vom „geistigen Menschen“. Noch in den sechziger Jahren meinte Adorno: „Das Wort mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man erst an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist.“

Mit der Studentenbewegung kam der Feminismus, der die kommunistische „Hälfte des Himmels“ zu fragilen Existenzweisen von „Jungesellinnen-Maschinen“ konkretisierte. Dieser Volontarismus war Teil der Single-Werdung globaler Konsumenten – und amerikanisch-pragmatisch genug, das Marxsche Diktum zu ignorieren, wonach die Gesellschaft nicht aus Individuen, sondern aus Produktionsverhältnissen besteht. Dennoch führte die zunehmende Ablehnung des „kleinen Sinns“, der Mutter-Werdung, dazu, zum einen die „Welt als Lebenswelt/ Umwelt“ zu sehen und zu kritisieren (ein Begriff, der auf Jakob von Uexküll zurückgeht, und letztlich auf Feuerbach). Und zum anderen zu einer konsequenten Feminisierung der Brusterkrankungen. Nur kurz aufgehalten durch eine Restaurations- phase, in der der „Lungenkrebs“ von Rauchern beiderlei Geschlechts, reüssieren konnte.

Eine Pariser Immunologin am Luis-Pasteur-Institut war es dann, die die Identität von Kind und Krebs entdeckte: Beide blockieren erfolgreich das Immunsystem ihres Wirts (der „Mutter“), das sie abzustoßen versucht. Mit dem Unterschied, daß mit der „Geburt“ des einen ein „neuer Staat“ entsteht und beim anderen „die Anarchie“ ausbricht. Genug, man muß die These wagen, daß sich die positive ebenso wie die negative Fixierung auf das „Lebenschenken“ mit bürgerlichen Individualstrategien nicht überwinden läßt. Helmut Höge

wird fortgesetzt