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„Jetzt haben wir den ersten Kriegstonfilm“

Die Retrospektive ist in diesem Jahr dem Regisseur G. W. Pabst gewidmet. Er gilt als der Begründer des realistischen Films in Deutschland. Notizen zu drei seiner Filme aus der Weimarer Zeit und der zeitgenössischen Kritik  ■ Von Daniela Sannwald

In einer nur spärlich beleuchteten Gasse drückt sich eine Dreierreihe ausgemergelter Menschen an eine Hauswand: mit schäbigen, zu kurzen Jacken und speckigen Hüten die Männer, mit hochgezogenen Schultern und eng um die Brust zusammengezogenen Tüchern die Frauen, manche von ihnen Taschen umklammernd, so stehen sie Schlange vor einer soliden Holztür. Die wird plötzlich von innen aufgestoßen, und ein massiger Mann mit pomadisiertem schwarzen Haar und gezwirbeltem Schnurrbart erscheint, eine weiße, blutbefleckte Schürze vor den Leib gebunden, die Hemdsärmel bis über die Ellenbogen aufgerollt. Breitbeinig, mit etwas zurückgelehntem Körper stapft er davon, eine riesige weiße Dogge an seiner Seite.

Dieser „saftvolle Fleischerkerl“, „ordinär, frech, geil, vom Humor der Shakespearischen Mörder“, so lobten zeitgenössische Kritiker die Darstellung von Werner Krauß, hat seinen Kellerladen im Zentrum jener Wiener Gasse, wo sich während der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg die Schicksale kreuzen. „Fleisch gegen Fleisch“ heißt seine Geschäftsmaxime (in ihrem Verbandsorgan protestierte die Fleischerinnung gegen das verunglimpfende Porträt eines ihrer Zunftgenossen); aus seinem knapp über dem Trottoir liegenden Fenster stiert er den Frauen vor seinem Laden auf die Beine. Und wenn ihm ein Paar gefällt, ist er bereit, deren Besitzerin zur Gänze in Augenschein zu nehmen, in seinem Keller, neben dem Hackklotz. Da werden Mäntel geöffnet, Schultertücher derb zur Seite gezerrt, Dekolletees entblößt, da wird geglotzt, gekniffen, getätschelt. Und als Kompensation für die erduldeten Zudringlichkeiten gibt es einen großen Klumpen Fleisch, frisch abgehackt und blutig, direkt in die Hand. Als eine, mit den geschäftlichen Gepflogenheiten nicht vertraut, einmal zurückzuckt vor der groben Pranke und den Schal am Hals ganz fest zusammenhält, da wirft er das schon bereitliegende Stück Fleisch nachlässig seiner im Hintergrund lauernden Dogge hin.

Der Fleischer als kleinbürgerlicher Profiteur der Inflation ist nur eine Variante dieser Spezies, die in Pabsts „Die freudlose Gasse“ ihr Unwesen treibt. Die anderen sind Börsenspekulanten, Kriegsgewinnler, Schieber und eine Bordellwirtin, die sich die Nöte der jungen Frauen nur wenig subtiler als der Fleischer zunutze macht.

„Die freudlose Gasse“, am 18. Mai 1925 uraufgeführt, ist der erste große Erfolg des Regisseurs Georg Wilhelm Pabst, der Film, mit dem er seinen Ruf als erster „realistischer“ Regisseur begründet und neben die anderen beiden großen Regisseure der zwanziger Jahre tritt, Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau.

Lang, dessen monumentales Nibelungen-Epos ein Jahr früher zur Uraufführung gekommen war, hatte vorher fiktive Abenteuer- und Kriminalgeschichten verfilmt und sorgfältige ornamentale Bildkompositionen aus Licht und Dekor geschaffen, in denen die Darsteller selbst zu Ornamenten wurden. 1925 ist er bereits mit der Arbeit an seinem düsteren Zukunftsentwurf „Metropolisä“ beschäftigt, dessen Massenchoreographien und moderne architektonische Visionen Kultstatus erlangen werden, und dessen auffälligstes Ornament das flächige, an ein grafisches Muster erinnernde Gesicht der Maschinenfrau Maria II, dargestellt von Brigitte Helm, wird.

Murnau dagegen hatte gerade „Der letzte Mann“ inszeniert und damit aus zwei Gründen Aufsehen erregt: Er traute seinen Bildern so sehr, daß er mit nur einem einzigen Zwischentitel auskam, und sein Kameramann Karl Freund hatte die Kamera „entfesselt“, ihr mittels aufweniger technischer Innovationen zur Beweglichkeit verholfen; sie konnte nun den Blickwinkel des Protagonisten übernehmen. 1925 und 1926 inszeniert Murnau mit „Tartüff“ und „Faust“ zwei klassische Theaterverfilmungen, an denen vor allem die Darstellung Emil Jannings' gelobt wird; Faust verfügt außerdem über eine aufwendige Lichtgebung und Tricktechnik, die Fausts Flug über die Welt auf Mephistos Mantel zu einer visuellen Abenteuerreise durch spätmittelalterliche Panoramen werden läßt.

Neben den Filmen dieser beiden ganz unterschiedlichen Stilisten Lang und Murnau war Pabsts „Die freudlose Gasse“ etwas ganz Neues: „Aus den einfachsten, wenn man will: billigsten Kontrasten entwickelt sich hier ein dokumentarischer Film. Armut und Reichtum, Tugend und Sünde – alle Gegensätze der Kolportage schließen sich zu einer Bildfolge zusammen, die drohend und unheimlich die Geschichte der letzten (Wiener aber auch Berliner Jahre) erzählt“, urteilte Herbert Jhering am 22.5. 1925 im Berliner Börsen-Courier.

Auch sein Kollege vom Vorwärts (24.5.1925) sieht „Die freudlose Gasse“ als dokumentarischen Film, der die Schrecken der Nachkriegszeit auf fast unerträgliche Weise heraufbeschwört: „Dieser Film ist ein Dokument der jüngsten Vergangenheit. Er gibt ein packendes Gemälde der Inflationszeit, wie sie durch Wien wie ein verwüstender Glutwind gegangen ist. Wir stehen diesen Ereignissen noch zu nahe und haben sie am eigenen Leibe zu sehr erfahren, um ihnen schon mit erforderlicher Distanz gegenüberstehen zu können; noch werden wir von dem Inhalt des Films aufgepeitscht, noch zum tiefsten Mitleid fortgerissen mit den zahllosen Opfern dieser Pest, die die physische und moralische Gesundheit der Menschen angefressen hat, noch ballt sich uns die Faust gegen die schamlosen Ausbeuter dieser Notlage und die frechen Lüstlinge, die sich überall ihre Beute holten.“

Der Premierenkritiker des links-demokratischen 8 Uhr- Abendblatts (19.5. 1925), fühlt sich durch den Film gar zu einem politisch- moralischen Appell veranlaßt, der retrospektiv erschreckende Implikationen hat: „Inflation! Ist das nicht wie ein kreischender Notschrei in weglose Nacht gejagter Menschen? [...] Wo lebt, wo ersteht in der Welt der Verkünder, der diesem rasenden Chaos nie so notwendig war wie jetzt, und dessen Hand die Liebe trägt und nicht die Flammenpeitsche des Bolschewismus?“

Am 29. März 1926 verbietet die Filmoberprüfstelle einige zuvor freigegebene Szenen, weil der Film die Prostitution als notwendige Konsequenz materieller Not darstelle und weibliche (!) Zuschauer daher moralischen Schaden nehmen könnten.

In seinem letzten Stummfilm, „Tagebuch einer Verlorenen“ aus dem Jahr 1929, wendet sich Pabst jedoch plötzlich vom Realismus ab. In „Tagebuch einer Verlorenen“ ist das Bodell, das Siegfried Kracauer „fast wie eine Pflegestätte guter Gesittung“ erscheint, nicht mehr Endstation des aus materieller Not geborenen sozialen Abstiegs, sondern Gegenentwurf zur Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. Deren Vorsteherin ist nun Valeska Gert, die in „Die freudlose Gasse“ die Bordellwirtin verkörpert hatte. Mit Gong und Taktstock bewaffnet, treibt sie ihre Opfer durch den Tagesablauf; der rasende Rhythmus, mit dem Essen, Arbeiten und Körperertüchtigung unterlegt sind, führt bei dessen Verursacherin zu ekstatischen Zuckungen des eigenen Leibes, bei denen Valeska Gert ihre tänzerischen Fähigkeiten zustatten kamen. Dagegen steht die Puffmutter, eine wohlwollende, gemütliche Matrone von majestätischer Haltung, die in rührender und gerührter Besorgtheit um ihre Mädchen aufgeht: „Eine zwei Zentner schwere, überschwabbelnde, dicke Mama majestätet durch Salons mit mystischen Liebesnotausgängen. Sie piekt der Film auf. Den Giftpilz der Bordellmutter. (Welche Entweihung des Mutter-Wortes, welcher Zynismus, der da gefilmt werden konnte.)“, schreibt der Film- Kurier (15.10.1929), und die Deutsche Allgemeine Zeitung (19.10.1929) ergänzt: „Die Bordellmutter hockt mollig und zärtlich aufgeplustert wie eine Gluckhenne zwischen ihren Schützlingen und vermeidet so aufs glaubwürdigste die übliche Schablone, mit der sonst ihre Gewerbegenossinnen dargestellt werden.“ Nicht nur läßt der Wechsel des Kupplerinnen-Typus von der anbiedernd-übergriffigen Biegsamkeit der Grotesktänzerin Valeska Gert zur heiter-gelassenen Gemütlichkeit der korpulenten Emmy Wyda das Bordell als „arkadischen Ort“ (Heide Schlüpmann) und damit als Utopie erscheinen; vor allem die Kameraarbeit Sepp Allgeiers mit den krassen Wechseln zwischen langen, bewegten Einstellungen, choreographierten Szenen und mitunter denunzierenden Detailaufnahmen vor schwarzem Hintergrund beunruhigten die Kritiker. So springt Valeska Gert auf der Suche nach dem Tagebuch der Titelheldin im Schlafsaal der einheitlich weiß gewandeten Mädchen als schwarzer Derwisch in einer Art zappeligen Balletts von Bett zu Bett; Großaufnahmen zeigen immer wieder die strahlende Unschuld im Gesicht von Louise Brooks, den verschlagenen Blick ihres Vergewaltigers Fritz Rasp, den verzerrten Mund der durch die eigenen Gongschläge entrückten Valeska Gert.

„Bedauerlich, daß G.W. Pabst, dieser begabte und geschmackvolle Regisseur, immer wieder in Gefahr gerät, den Erfolg seiner Filme durch übertriebene und gewaltsame Stilexperimente in Frage zu stellen. [...] Entstanden ist ein Film, der die Vorgänge entstellt, überpointiert, auf die Spitze getrieben zeigt. Anklänge an [...] den Russenfilm werden durch läppische Possenscherze unterbrochen...“, urteilt Der Montag Morgen am 21.10.1929; und Die Rote Fahne (16.10.1929) wettert: „Diesen Dreck aus den Filmkloaken Hugenbergs inszenierte aber G.W. Pabst, der Regisseur des wertvollen Inflationsfilms „Die freudlose Gasse“. Seit dem Entstehen der „Freudlosen Gasse“ sind allerdings einige Jahre vergangen, und Pabst scheint heute in die Reihe der geistigen Lustknaben des deutschen Filmkapitals einschwenken zu wollen.“ Das war kein Realismus mehr, das war ein „Stilfilm“.

Doch mit seinem ersten Tonfilm „Westfront 1918“, der am 23. Mai 1930 Premiere hat, kehrt Pabst, indem er sich des „schwersten Themas“, den Menschen- und Materialschlachten des Ersten Weltkriegs annimmt, zum Realismus zurück. Die Aufnahmemöglichkeiten des Tonfilms, der sich in Deutschland noch in der Erprobungsphase befindet, reizen die Regisseure zur Inszenierung von in verschiedenen Sprachen und Mundarten geführten Dialogen, musikalischen Darbietungen und zum lustvoll-spielerischen Einsatz von Geräuschen – kurz: zu jeder Art akustischer Experimente, die das junge Medium zuläßt. Nicht umsonst sind in den frühen Tonfilmen stets die Toningenieure an prominenter Stelle im Vorspann genannt – als neue Helden der Kinematographie. Auch Pabst nutzt all diese akustischen Spielarten in „Westfront 1918“, aber mit seiner Vertonung des Schlachtengetümmels geht er weit über alles in Deutschland bisher Bekannte hinaus. „Das Elend wird durch die Vertonung [...] in eine so grausame Nähe gerückt, daß der Abstand, den sonst künstlerische Werke zwischen dem Publikum und dem ungeformten Geschehen setzen, stellenweise aufgehoben ist“, schreibt Siegfried Kracauer am 27.5. 1930 in der Frankfurter Zeitung.

Wie in „Die freudlose Gasse“ sind die Schicksale der vier Protagonisten locker miteinander verwoben; als Angehörige der gleichen militärischen Einheit ziehen sie in die Schlachten, privat geht jeder von ihnen seines eigenen Weges: „Der Student“ lernt eine Französin kennen und lieben. „Karl“ bekommt Fronturlaub und ertappt seine Frau in flagranti mit einem Metzgergesellen – hier zitiert Pabst noch einmal das Motiv Fleisch gegen Fleisch: eine Schlange hungriger Menschen steht vor der Metzgerei an, während der Fleischer sich im fremden Bett wälzt, nachdem er auf dem Tisch in der Stube die Gegenleistung für die erwiesenen Gefälligkeiten in Form eines Fleischklumpens deponiert hat, den ihm der betrogene Ehemann wenig später hinterher wirft. „Der Bayer“ singt und sorgt für die Aufrechterhaltung der Moral, „der Leutnant“ schließlich reibt sich auf in Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten, die fern vom Kampfgeschehen unsinnige Befehle erteilen.

Diese individuellen Schicksale halten die dokumentarisch wirkenden, quälend eindrucksvollen Kampfszenen zusammen: auf nächtlichen Schlachtfeldern, den, durch Schützengräben aufgerissenen Ebenen, marschieren französische und deutsche Soldaten aufeinander zu, töten einander mit Handgranaten, Maschinengewehren und im Nahkampf, verenden jämmerlich im Stacheldraht, während die Überlebenden beider Seiten demoralisiert und zerschlagen den Rückzug antreten. Das Trommelfeuer der Flak, die Detonationen der Handgranaten, das Rattern der Maschinengewehre, das bedrohliche Brummen der Panzer, schließlich die gräßlichen Schreie der Verwundeten sind nun im Kino zu hören und steigern die realistische Wirkung der Bilder um ein Vielfaches.

Die zeitgenössische Kritik setzt sich nach der Premiere durchweg mit den Möglichkeiten des neuen Mediums Tonfilm auseinander, nicht alle so enthusiastisch wie in Der Abend (Vorwärts) am 24.5. 1930: „Als die ersten noch auf Kriegsverherrlichung ausgehenden Kriegsfilme herauskamen, ist hier oft genug festgestellt worden, daß der stumme Film, selbst wenn er die Wahrheit gäbe, nicht das ganze Entsetzen und Grausen widerzuspiegeln vermag, das erst die begleitenden Geräusche, das Zischen und Heulen der Granaten, das Trommeln der Maschinengewehre und vor allem das Schreien der Verwundeten hervorzurufen vermögen. Jetzt haben wir den ersten Kriegstonfilm, und jetzt kann uns der Film in der Tat den Eindruck vermitteln, wie der Krieg wirklich gewesen ist.“

Dagegen hält Kurt Pinthus im 2. Beiblatt des 8 Uhr-Abendblatt der Nationalzeitung, ebenfalls am 24.5.1930: „Wer noch nie einen Tonfilm gemacht hat, durfte sich nicht mit seinem ersten Versuch gleich an das schwerste Thema wagen. [...] Aber dann die beiden großen Finales müssen zum Kühnsten und Gelungensten gezählt werden, was Kinokunst bisher erreicht hat, freilich auch, nochmals gesagt, zum Grausamsten und Nervenzermarterndsten (aber zum guten Abschreckungszweck).“ Und in der Frankfurter Zeitung vom 27.5. 1930 formuliert Siegfried Kracauer seine Bedenken über die mangelnde Distanz zwischen Realität und künstlerischer Verarbeitung, allerdings viel rationaler als das sein Kollege vom Vorwärts fünf Jahre früher in seiner Rezension von „Die freudlose Gasse“ getan hatte: „[...Der Film] zerstört an den genannten Orten die Schranken, die dem Abbild gezogen sind und erzeugt wie irgendeine Panoptikumsfigur den widernatürlichen Schein der außerkünstlerischen Natur. Die Frage ist, ob er zu Recht ins Dreidimensionale überspringt. Ich neige dazu, sie in diesem Falle zu bejahen, in dem es gilt, die Erinnerung an den Krieg um jeden Preis festzuhalten. [...] Daß [der neuen Generation] das Angeschaute zur Abbschreckung dient, ist unwahrscheinlich, aber wissen soll sie, wie es gewesen ist. Es kommt hier aufs Wissen an, nicht auf den mit ihm verbundenen Zweck.“

Kracauers wertfreie Analyse von Westfront 1918 als quasi-dokumentarischer Film gegen das Vergessen der Schrecken des Ersten Weltkriegs wurde von den meisten seiner Kollegen nicht geteilt. Die Rezeption des hochbrisanten Films durch die zeitgenössischen Kritiker repräsentiert die in den letzten Jahren der Weimarer Republik herrschende Meinungsvielfalt, der wenig später durch die nationalsozialistische Diktatur der Garaus gemacht werden sollte; und es ist interessant, wie – je nach politischer Couleur des Blattes – derselbe Film völlig unterschiedlich beurteilt wird. In der zum Hugenberg- Konzern gehörenden Zeitung Der Tag vom 25.5. 1930 ist zu lesen: „Wer den Weltkrieg mitgemacht hat, ist ohnehin ein ehrlicher Friedensfreund. Aber um welchen Preis? Ist dieser Ladislaus [der Drehbuchautor Ladislaus Vajda], sind die Herren Nebenzahl und Rosenthal (daher Ne-Ro) [die Produzenten der Firma Nero-Film AG, Berlin] etwa deshalb so hemmungslos abstoßend in ihrem Film, um Deutschland noch möglichst lange in seiner sklavischen Heldenrolle zu wissen? Man verschone uns doch mit derartigen pazifistischen Unternehmungen...“ Aber auch die kommunistische Rote Fahne 27.5. 1930) wandte sich gegen „die pazifistische Verkleisterung“, entdeckte allerdings „Schützengrabenszenen, Trommelfeuer, Nahkämpfe, die – wenn sie dreist bei Frankfurt a.d. Oder gedreht wurden – doch mit mutigem Realismus, ohne Beschönigung, ohne Sentimentalitt, wirklichkeitsstark und eindrucksvoll gestaltet sind. In diesen Szenen verrt sich die Schule des Sowjetfilms.“

In einer perfide antisemitischen, ausführlichen Rezension greift der Völkische Beobachter, Bayernausgabe (8./9./10. 6. 1930) gleichwohl einen Aspekt auf, der im Zusammenhang mit Kriegs- bzw. Antikriegsfilmen bis heute diskutiert wird, nämlich ob der Zweck die Mittel heilige und die möglichst realistische filmische Darstellung von Kriegsgreueln nicht per se den Krieg verherrliche und damit auch besten Abschreckungsintentionen zuwiderlaufe. Das Blatt entwickelt die Argumentation von der entgegengesetzten Seite aus: „Die gesamte Filmproduktion im Bunde mit der gleichfalls pazifistisch wirkenden Reichsfilmprüfstelle ist heute in den Händen jüdischer Wirtschaftsmacht. [...] Soweit es das Geschäft nur irgendwie verträgt, wird das Judentum immer versuchen, die pazifistische Geisteshaltung im deutschen Volke zu fördern. [...] Der Schwerpunkt der pazifistischen Filmpropaganda liegt daher heute auf einer geschickten Herausarbeitung bestimmter Schlußfolgerungen, während die Darstellung an sich in ihrer Realistik objektiv bleibt. [...] Und deshalb endet auch der Film ,Westfront 1918‘ nach im ganzen einwandfreier Wiedergabe der Wirklichkeit mit zielsicher aufgemachten Lazarettszenen und einem Kompanieführer, der im Nervenzusammenbruch oder auch vielleicht infolge einer Hirnverletzung immer und immer wieder ein gellendes Hurrahschreien schaurig und sinnlos von sich gibt, als sie ihn forttragen.“

Kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, am 27.4. 1933, wurde „Westfront 1918“ von der Filmoberprüfstelle verboten. Die Begründung dreht die Argumentation des nationalsozialistischen Blattes noch einmal um; es heißt darin, die Darstellung des Krieges sei „durchaus einseitig und wird in keiner Weise der Erinnerung des deutschen Volkes an die Heldentaten und die Opfer seiner Kämpfer gerecht. Indem der Bildstreifen die gebrachten Opfer als unnütz und den Krieg übertrieben realistisch darstellt, untergräbt er den Verteidigungswillen des Volkes und wirkt den Zielen der nationalen Regierung auf Ertüchtigung der Jugend und Wehrhaftmachung des Volkes entgegen.“

Die vier Kameraden in Westfront 1918 verenden im Dreck oder im Lazarett, und Karl, dessen Gesicht eine Krankenschwester soeben verhüllt hat, merkt nicht mehr, daß der neben ihm liegende französische Soldat seine Hand ergreift und flüstert: „Moi ... camarade, pas d'ennemi“.

Alle Zitate aus dem Schriftgutarchiv der Stiftung Deutsche Kinemathek, Schreibweise vereinheitlicht und modernisiert, Sperrungen im Originaltext nicht berücksichtigt.

Die Filme der Pabst-Retrospektive sind vom 13. bis 24. Februar im Astor und im Zeughauskino zu sehen. Insgesamt werden 43 Filme gezeigt, bei denen Pabst Regie führte, als Drehbuchautor oder Regieassistent mitwirkte. Das sind alle, bis auf zwei Stummfilme, die – noch – verschollen sind.

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