Die Berlinale ist eine Baustelle

Heute eröffnen die 47. Berliner Filmfestspiele – mit viel verfilmter Literatur und Geschichten, die das Leben schrieb. Der Umzug ins Multiplex ist abgewendet, aber was wird das Schicksal von Festivalchef de Hadeln sein?  ■ Von Anja Seeliger

Geht er oder bleibt er? Ausgerechnet heute – am Eröffnungstag der Berlinale, mit Ausblick auf 206 Filme in 12 Tagen, nicht mitgezählt zwei üppig bestückte Retrospektiven, die Kurzfilme und das Kinderfilmfestival –, ausgerechnet heute fällt offiziell die Entscheidung, ob Festivalchef Moritz de Hadeln im Amt bleiben wird oder nicht. Gutes Timing! Aber unsereins muß ja ganz still sein. „Das ist fast wie in der taz“, grinste eine Kollegin auf der Pressekonferenz vor einer Woche. Schlange!

Worum geht es? De Hadelns Vertrag steht zur Verlängerung an. Eine reine Formsache? Keineswegs. Der Festivalchef wird seit Jahren von der Presse heftig kritisiert für die Wurschtigkeit, mit der er die Wettbewerbsfilme aussucht: Zuviel amerikanisches Mainstreamkino, das den Wettbewerb als kostenlose Werbeveranstaltung nutzt und praktischerweise seine Starttermine auf die Donnerstage rund um die Berlinale plaziert. Ein völlig willkürliches Auswahlsystem. Zum Beispiel China: In einem Jahr (ist schon ein bißchen her) Zhang Yimous prachtvoller Debütfilm „Das rote Kornfeld“, in einem anderen Jahr ein derart belangloser Chinawestern wie Xia Gus „Tal der Sonne“, daß man sich fassungslos fragt: Wonach geht das hier? War China gerade mal wieder dran? Und wenn das so ist, war Zhang Yimou dann eine Entdeckung oder ein Versehen?

Es gibt eine Menge gute Gründe, de Hadeln zu feuern, aber einer gehört bestimmt nicht dazu: seine Weigerung, die Berlinale vorschnell auf den Potsdamer Platz zu verlegen. Gefordert hat dies vor einigen Monaten Peter Radunski, Kultursenator in Berlin. „Zur möblierten Untermiete in einem Multiplexkino, das die technischen Erfordernisse des Festivalbetriebs nicht erfüllen will. Mit einer völlig anderen Akustik und einer zu kleinen Leinwand. Ohne Kneipen und Restaurants, in denen sich die über zehntausend auswärtigen Festivalbesucher tummeln können“, beschrieb der tip das drohende Szenario. Der Potsdamer Platz wird noch für Jahre ein toter Platz bleiben. Was zum Teufel soll die Berlinale dort? Den Bauherrn von der debis, in deren Gebäude die Berlinale einziehen sollte, etwas Cachet verleihen? Ist das vielleicht die Aufgabe eines Kultursenators? Wenn de Hadelns Vertrag heute verlängert wird, kann man das nicht einmal richtig beklagen. Aber wenn er geht, kann er Radunski gleich mitnehmen.

Doch nun zum Programm!

25 Wettbewerbsfilme, und sieben davon sind Literaturverfilmungen! Solange es Bücher gibt, werden uns auch die Filme nicht ausgehen. Bille August eröffnet heute abend den Wettbewerb mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. Arthur Miller hat gleich selbst seine „Hexenjagd“ zu einem Drehbuch für Regisseur Nicolas Hytner umgeschrieben, ein Ansinnen, das Baz Luhrmann an seinen Autor nicht mehr stellen konnte: Erinnert sich noch jemand an Luhrmanns wunderbaren Film „Strictly Ballroom“? Standardtanzwettbewerbe in Australien, fingerdickes Make-up, Betondauerwellen und dazwischen ein Paar, das unbedingt Pasodoble tanzen wollte. Luhrmann war genau der richtige Regisseur für „Romeo und Julia“. Dies ist das größte Romeo- und-Julia-Spektakel seit der Uraufführung.

Erstaunlich, wie manche Ideen so in der Luft zu liegen scheinen und dann davonschweben – von Brasilien nach Frankreich und zurück nach Amerika: Gleich vier Wettbewerbsfilme beruhen auf wahren Begebenheiten. Der brasilianische Wettbewerbsbeitrag „Die Guerilleros sind müde“ von Bruno Barreto erzählt die Geschichte von der Entführung des deutschen Botschafters in Brasilien 1968.

Claude Berri hat die Memoiren von Lucie Aubrac verfilmt. Lucie und Raymond Aubrac haben während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance gegen die deutsche Besatzung gekämpft. Raymond Aubrac wurde mehrere Male von der Gestapo verhaftet und jedesmal von seiner gewitzten Frau wieder befreit.

John Singletons Film „Rosewood“ basiert auf einem Massaker an der schwarzen Bevölkerung eines kleinen Städtchens in Florida 1922. Und Milos Formans Film „The People vs. Larry Flynt“ erzählt die Geschichte des amerikanischen Hustler-Herausgebers Larry Flynt. Flynt hat mit seinen Pornomagazinen Millionen verdient und einen guten Teil des Geldes in Gerichtsprozessen verpulvert. Er gewann einen Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof gegen den Prediger Jerry Falwell, von dem er in einer Satire behauptet hatte, daß er zum erstenmal Sex auf einem Außenklo hatte. Mit seiner Mutter.

Da werden auf der Berlinale einige Gäste zusammentreffen, die sich das wohl nie hätten träumen lassen: Der echte Larry Flynt, das Ehepaar Aubrac und einige müde Guerilleros.

Der deutsche Wettbewerbsbeitrag kommt übrigens von Wolfgang Becker: „Das Leben ist eine Baustelle“. Man kann an dem Film einiges aussetzen, vor allem daß das Drehbuch fatal an den Titel erinnert, aber ich kann mich nicht erinnern, daß Berlin im Film jemals so schön aussah. Manchmal hat man den Eindruck, im Prag der 20er Jahre zu sein, dabei ist es doch nur der olle Prenzlauer Berg. Selbst das häßliche Ku'damm-Eck ist von einem Glanz umgeben, den ich bis jetzt glatt übersehen habe.

Und damit kommen wir zum Forum. Hervé Le Roux hat einen Dokumentarfilm gefunden. Er heißt „La reprise du travail aux usines Wonder“ und wurde 1968 aufgenommen. Man sieht eine spontane Straßendiskussion in einem Pariser Vorort, als die Arbeiterinnen einer Fabrik für Batterien die Arbeit nach einem Streik wiederaufnehmen sollen. Eine Arbeiterin rebelliert, Gewerkschaftsvertreter versuchen sie zu beruhigen. Soweit der echte Stoff. Nach zehn Minuten ist alles vorbei. Le Roux hat sich drangemacht und fast alle Personen aus diesem Film aufgespürt, selbst den Filmer, der bis dahin als unbekannt galt. Dies ist nicht nur ein Dokument über Glanz und Elend der 68er: „Der Film hat einen militanten Unterton, aber wir dachten, das kann auch nicht ganz falsch sein“, erklärte Forum-Leiter Ulrich Gregor auf der Pressekonferenz. Und wie er da so saß und streng durch die dicke Brille guckte, glaubte man ihm aufs Wort.

Ulrike Ottinger hat in „Exil Shanghai“ die Spuren europäischer Juden verfolgt, die vor den Nazis nach Schanghai geflüchtet waren, weil dies eine Zeitlang der einzige Ort auf der Welt war, für den sie kein Visum brauchten.

Von der Vergangenheit rauscht man dann direkt in die Gegenwart – nach Mostar. Pepe Danquart und Mirjam Qinte haben in „Nach Saison“ über zwei Jahre lang die Arbeit von Hans Koschnick als Bürgermeister von Mostar aufgezeichnet. Koschnick wird bei der Vorführung dabei sein.

Und am Sonntag, dem 23.Februar, zeigt das Forum in einer Sondervorführung Videos von den Streiks in Korea. Die Videos wurden von der Gewerkschaft in Auftrag gegeben, und zwar an bekannte koreanische Künstler.

Uff, eigentlich müßte man ja auch noch was über die acht Filme aus Brasilien erzählen, und dann wäre da noch dieser koreanische Film mit dem schönen Titel „Der Tag, an dem mein Schwein in den Brunnen fiel“ oder der israelische Film, der da heißt „Wie ich lernte, meine Angst zu überwinden und Arik Sharon zu lieben“ ...

Das Panorama hat unter der Überschrift „Mädchen (und Jungen)“ – die Klammer ist Programm: „Die Jungen spielen in diesen Filmen keine große Rolle“, erklärte Panorama-Leiter Wieland Speck auf der Pressekonferenz – eine Reihe von Filmen zusammengestellt, die sich mit der Pubertät befassen, und zwar der von Mädchen. Interessant daran ist, daß sechs dieser Filme von jungen Frauen gedreht wurden, zum Beispiel „All over me“ von Alex Sichel, die nach einem Drehbuch ihrer Schwester den „Aufbruch zweier bester Freundinnen ins eigenständige Leben“ schildert. So könnte man eigentlich auch „Set it off“ von F. Gary Gray beschreiben. Vier Mädchen starten eine rasante Karriere von Mülltrennerinnen zu einer veritablen Bankräuberbande. Eine der Hauptrollen spielt Queen Latifah!

Uiii! Hier flattert gerade noch ein dpa-Ticker mit der Überschrift „Berlinale-Chef“ auf den Tisch: „Deutsche Filme haben vor allem wegen ihres speziellen deutschen Humors nur selten im Ausland Erfolg“, erklärt de Hadeln. Selbst ein de Hadeln findet manchmal ein Korn.

P.S. Die Rezension zu Bille Augusts „Fräulein Smilla ...“ finden Sie heute in der täglich erscheinenden vierseitigen Berlinale-Beilage, die der Berliner Ausgabe beiliegt und von der ab morgen jeweils eine Seite auch überregional beiliegt.