Die Zählebigkeit der „Bleiernen Jahre“

Carlo Ginzburgs „Offener Brief an den Minister Flick“ ist ein Dokument ohnmächtiger Wut, gerichtet just an jene Stelle, die sich nun aufgrund des demokratischen Urprinzips der Gewaltenteilung absolut nicht in die Rechtsprechung einmischen darf. Die Wut dessen, der sich durch die 750 Seiten Urteilsbegründung in der ersten – von insgesamt sieben – Instanzen in Sachen Adriano Sofri hindurchgearbeitet und keine Beweise für die Schuld der Angeklagten am Tod des Polizeikommissars Luigi Calabresi 1972, dafür aber eine Riesenmenge Unregelmäßigkeiten seitens der Ermittler und der Urteilsverfasser gefunden hat. Die Wut dessen, der ein Buch darüber geschrieben und seine minutiösen Gegenvorstellungen in den folgenden Instanzen nicht einmal ansatzweise berücksichtigt gefunden hat.

Doch die Urteilsfindung beruht in unseren Rechtssystemen nun einmal nicht auf dem Aktenstudium, sondern auf dem Eindruck, den sich die Geschworenen und Berufsrichter in der mündlichen Verhandlung machen. Und oft genug, auch wenn es uns nicht paßt, auf dem Klima, das einen Prozeß begleitet. Und hier liegen mit die Hauptgründe für dieses sachlich nicht begründbare Urteil. Sofri, Pietrostefani und Bompressi, vor allem aber jene, die sie während der Prozesse von außerhalb intensiv verteidigt haben, sind an das Verfahren mit einer völlig verfehlten Einstellung und der falschen Strategie herangegangen, obwohl absehbar war, daß dies böse enden würde.

1. Italien ist zwar das Land, das den Satz „in dubio pro reo“ erfunden hat, doch seine Rechtsprechung hat sich nur selten daran gehalten: In der Praxis muß man in Italien seine Unschuld beweisen, es reicht nicht, die Mangelhaftigkeit der Anklage zu belegen. Nun hatte Adriano Sofri bereits vor dem Urteil erster Instanz angekündigt, er werde auf keinen Fall Berufung einlegen. Ein verhängnisvoller Fehler, nicht nur, weil die Geschworenen das als Erpressung aufgefaßt haben. Die notorische Oberflächlichkeit der unteren Instanzen Italiens rührt auch daher, daß diese sowieso von einer weitgehenden Revision bei den Obergerichten ausgehen. Daß die anderen Angeklagten in die Berufung gingen, hat es nicht mehr gebracht – Sofris Intelligenz wäre gerade in den höheren Instanzen gefragt gewesen.

2. Offenbar war Carlo Ginzburg einer der ganz wenigen, die diese Gefahr erkannt haben; die anderen Freunde Sofris und auch die Angeklagten selbst haben den ermittlungstechnischen und strafrechtlichen Aspekt viel zuwenig gewürdigt: Für sie stand von vornherein fest, daß es sich um einen politischen Prozeß – eine Art „Nachverurteilung“ der gesamten 68er-Bewegung – und um nichts anderes handle. So ging die Verteidigung etwa viel zuwenig der Frage nach, ob sich der „Kronzeuge“ Leonardo Marino, der sich selbst als Mittäter bezeichnet hat, möglicherweise beauftragt gefühlt haben könnte, ohne wirklich beauftragt gewesen zu sein: Marino kommt aus Kalabrien, wo ein schlechtes Wort eines Bosses über einen Menschen bereits dessen Todesurteil bedeuten kann. Daß Marino sein damaliges Idol Sofri anläßlich irgendeiner bösen Bemerkung über Calabresi so verstanden hat, ist durchaus nicht unwahrscheinlich – daß er daraus einen wörtlichen Mordbefehl machte, wäre dann wohl auf die (sicher intensive) Vorbereitung seitens der Ankläger zurückzuführen, die ihm gewiß klargemacht hätten, daß man mit einer bloß herausgehörten Auftragserteilung vor Gericht nicht durchkommen werde. Hier wurde seitens der Verteidiger Sofris viel zuwenig gebohrt.

3. Besonders negativ hat sich das Gruppenverhalten der für Sofri aufmarschierten Ex-Lotta- Continua-Militanten ausgewirkt. Schon die Massenselbstanzeige Dutzender ehemaliger LC- Mitglieder in Sachen Calabresi drängte die Staatsanwaltschaft in eine Ecke, aus der sie sich durch den Hinweis auf die „unverminderte Arroganz dieser Gruppe“ herauszuwinden suchte. Der ständig wiederholte Kernsatz: „Von uns war das keiner“, machte es den Anklägern vor allem in den höheren Instanzen leicht, Lotta Continua als Bruderschaft darzustellen, deren Mitglieder sich in den inzwischen erreichten politischen und sozialen Machtpositionen einigeln und jeden niederbügeln, der ihre Integrität in Frage stellt. (Eine Aggressivität, die ich übrigens selbst seit meinen distanzierten Kommentaren zu spüren bekomme.)

4. Tatsächlich hat es in Italien noch nie einen derartigen einhelligen publizistischen wie politischen Druck für einen Freispruch gegeben (selbst im Falle des zu Unrecht eingesperrten, dann in dritter Instanz rehabilitierten Showmasters Enzo Tortora wegen angeblichen Drogenhandels waren die Medien gespalten). Aber auch das nutzten die Ankläger: Sie führten Sofri und seine Fürsprecher als machtbesessene Arriviertenclub vor, wiesen darauf hin, daß es heute faktisch keine Zeitung und keine TV-Anstalt gibt, wo nicht Exmilitante von Lotta Continua sitzen, vom staatlichen Fernsehen RAI bis zu Berlusconis Medien (für die Sofri selbst arbeitet), daß da kaum eine Partei sei, wo sie oder enge Freunde nicht mitmischen (vom ehemaligen sozialistischen Justizminister Claudio Martelli bis zum neuen Chef der Grünen, Luigi Manconi). Bei vielen Bürgern und möglicherweise auch bei manchem Geschworenen hat all das am Ende das eh schon vorhandene Vorurteil verstärkt, daß sich die Linken nur dann um Justizirrtümer kümmern, wenn einer der ihren betroffen ist. Tatsächlich sitzen in Italien Hunderte Frauen und Männer ein, deren Verurteilung auch nicht auf besseren Beweisen beruht als die Sofris – ohne daß sich jemand darum kümmert.

5. Gerade wenn man den Prozeß als rein politisch verstehen wollte, hätte man nun aber auch eine entsprechende politische Verteidigung aufbauen müssen. Aufzuarbeiten wäre dann aber der Gesamtkomplex jener frühen 70er Jahre gewesen, auch mit den Fehlern und der auch von LC-Genossen ausgeübten Gewalttaten. Statt dessen haben sie sich allzu stark auf eine bloße Rechtfertigungsstrategie eingeengt. Sofri selbst hat zwar eingeräumt, daß man den Mord an dem verhaßten Kommissar Calabresi mit einer gewissen Genugtuung hingenommen habe. Eine glaubwürdige Distanz zum eigenen Beitrag bei der Erzeugung dieses Klimas der Gewalt, ein wirkliches Mitgefühl für die Opfer von damals hat er dabei den Geschworenen aber offenbar nicht vermittelt, und, ehrlich gesagt, mir auch nicht. Ob eine bessere, selbstkritischere Bearbeitung jener „Bleiernen Jahre“ das Urteil geändert hätte, läßt sich nicht sagen; zu einer geringeren Verhärtung der Fronten hätte sie jedenfalls beigetragen.

Das alles ändert nichts daran, daß Sofri nicht hätte verurteilt werden dürfen. Ginzburgs letzter Satz, wonach „die Kraft der Demokratie in der Fähigkeit liegt, die eigenen Fehler einzugestehen“, sollte aber nicht nur für die Justiz gelten, sondern auch für uns ehemalige Aktivisten der Studentenrebellion. Werner Raith