„Dann bist du erledigt“

■ Auch in Mißbrauchsprozessen kommt es zu Beschuldigungsritualen – ein Gespräch mit Regisseur Nicholas Hytner

taz: In Ihrer Version von „Hexenjagd“ wird nahegelegt, daß das sexuelle Erwachen einer Gruppe junger Mädchen die große Verfolgungsmaschine von Salem 1692 in Gang gesetzt hat.

Nicholas Hytner: Zum Teil, ja. Es gibt in einer amerikanischen Kleinstadt keine Gruppe, die weniger Macht hat als junge Mädchen.

Aber diese Mädchen sind doch gar nicht machtlos, durch ihre Beschuldigungen bringen sie eine stattliche Reihe Erwachsener an den Galgen, es macht doch eher den Eindruck, daß man vor ihrer seltsamen Macht erschrickt.

Die meisten Mädchen, die in die Hexenjagd involviert waren, sind in dem Geist erzogen worden, daß ihre Sexualität etwas Fürchterliches und Böses ist. Sie mußte deshalb eben so gewaltsam hervorbrechen, immer mit der Angst, entdeckt zu werden.

Aber warum explodiert es in Massachusetts und nicht anderswo? Kann das nicht mit diesem Interregnum, diesem Machtvakuum zusammenhängen?

Das glaube ich nicht. Das Wunderbare beim Erzählen dieser Geschichte ist, daß es da etwas völlig Irrationales gibt, etwas, das man einfach nicht verstehen kann. In der Mitte der fünfziger Jahre gab es schon einmal eine französische Verfilmung des Stoffes, mit einem Drehbuch von Jean-Paul Sartre, in dem die Sache auf eine vulgärmarxistische Weise erklärt wird: Die Hexenjagd ist darin eine Erfindung der reichen Großgrundbesitzer, mit der sie die armen Bauern in Schach halten. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Wir wissen genau, wer gehenkt wurde, und viele von ihnen waren wohlhabend. Das war ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Es ist schon interessant zu sehen, wie wenig diese marxistische Betrachtungsweise von dem mitbekommt, um was es dabei geht.

Wie würden Sie Ihren Zugriff auf dieses Material beschreiben?

Ich ziehe es vor, in theologischen Begriffen darüber zu reden: Dies ist eine Geschichte darüber, wie wir mit dem Bösen umgehen. Satan war eine konkrete Präsenz für diese Leute, sie sagen: Ich habe Goodie Procter mit dem Teufel gesehen, ich habe Martha Curley mit dem Teufel gesehen. Der Satan ist im Alten Testament praktisch nicht vorhanden, er taucht als Charakter oder Idee, als Weltbild, in dem die Kräfte des Guten gegen die Kräfte des Bösen kämpfen, erst mit den Aposteln auf. Von da ab wird seine Macht größer und größer. Der Grund dafür ist, daß die Christen es immer wichtiger fanden, ihre Herkunft aus dem jüdischen Volk zu dämonisieren, sich von denen abzugrenzen, die in ihrer Mitte lebten.

Man kann nicht anders, als sich an die Hysterie um das Thema sexueller Mißbrauch erinnert zu fühlen, „repressed memory syndrome“ und so weiter ...

Natürlich! Das repressed memory syndrome, also die plötzlich, auch unter Suggestion auftretende Erinnerung eines früheren strafbaren Ereignisses, das wird man in einigen Jahren als ein „Nenne die Namen“-Ritual beschreiben: Ich habe deinen Geist mit dem Teufel gesehen, der und der hat seinen Geist gesandt, mich anzugreifen. Videos, auf denen kleine Kinder auf einen Mann zeigen und sagen: Der da hat mich angefaßt, wo mich niemand anfassen darf, dann ist das ein Ritual. Wenn die Autoritäten, wenn die Justiz darin dann eine ausreichende Beschuldigung sehen, bist du erledigt. Interview: Mariam Niroumand