Nicht beschreibbares Elend

■ Lesung der Biografie der „Schindler-Jüdin“ Müller-Madej

Am Ende der Fragestunde mit Stella Müller-Madej im TiK, einer der durch Oskar Schindler vor der Vergasung in Auschwitz geretteten Jüdinnen, steht ein Arbeiter mit sächsischem Tonfall auf und klagt über den Antisemitismus in seinem Betrieb. Die Antwort des Moderators Henryk M. Broder dokumentiert die Hilflosigkeit der Kulturgesellschaft: „Am besten, sie verhalten sich ruhig. Der Antisemitismus ist eine Sucht, gegen die man nicht argumentieren kann“. Vielleicht blieb das TiK deswegen halbleer, als am Mittwoch die Lesung aus Müller-Madejs Autobiografie begann, des einzigen schriftlichen Zeugnisses über Schindlers Taten.

Die Autorin hat vor etwa 25 Jahren mit dem Schreiben begonnen – immer wieder durch längere Krankenhausaufenthalte unterbrochen, die etwa ein Viertel ihrer Lebenszeit nach 1945 ausmachten. Stella Müller-Madej wurde in Krakau geboren und lebt noch immer dort. Daß sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder gerettet werden konnte, verdankt sie einem Zufall. Ihr Onkel Grünberg, ehemals einflußreicher Architekt und im Warschauer Ghetto von Lagerkommandant Amon Göth gehaßt, setzte die Familie statt seiner auf Schindlers Liste. In dem Ghetto hielten übrigens bis zuletzt fast alle Insassen die Liste von Schindler für einen Betrug.

Die Thalia-Schauspielerin Cornelia Schirmer las vorwiegend aus dem „Ghetto“-Kapitel des Buches, das die Erlebnisse des damals 12jährigen Mädchens wiedergibt. Den Abtransport von Kindern auf offenen LKW's, Mütter, die sich die Haare ausreißen, das Grinsen der Aufseherinnen, deren Peitschen „sich unablässig wie Lebewesen bewegen“.

Über Spielbergs Film habe sie sich gefreut, erklärte Müller-Madej, obwohl er sie emotional kalt gelassen habe. „Das Elend der Menschen ist nicht beschreibbar“, sagte sie. Und auch die Erinnerungsstätten taugen nicht richtig. Eine amerikanische Einrichtung hat etwa in Krakau eine prunkvolle Villa für die Juden gestiftet, „mit Marmorfußboden“. In den beiden jüdischen Cafés gibt sich die Krakauer Oberschicht ihr Stelldichein: die Autorin nennt das „Sehnsucht nach jüdischer Folklore“ – denn Juden gibt es fast keine mehr. Dennoch hege sie gegen heute lebende Deutsche keinen Groll, denn sie habe von diesen keinen Antisemitismus mehr gespürt.

Christoph Schlee