Das ganz bewußte Dorf

Ein Modellprojekt und seine Folgen: In einem winzigen Ort in der Nähe von Hannover sprießt die ökologische Baukultur  ■ Von Jörg Walser

Es ist eigentlich ein kärgliches kleines Dörf-lein. Vor sieben Jahren hat als letztes Geschäft der Tante-Emma-Laden zugemacht, seit einem guten Jahr ist die örtliche Postfiliale dicht. Selbst Milch ist hier – mitten auf dem Land – nicht zu bekommen, denn auch Milchbauern gibt es hier schon lange nicht mehr.

Und doch fühlen sich Menschen hingezogen zu dem 432-Seelen-Ort südlich von Hannover und haben hier Möglichkeiten gefunden, die sie anderswo vergeblich suchen. Denn Dörpe ist ein kleiner Experimentierkessel. Das abgeschiedene Vier-Straßen-Nest – die nächste etwas größere Gemeinde liegt acht Kilometer entfernt – ist zu einem Tummelplatz geworden für Tüftler und Bastler, deren Lebensvorstellung es verlangt, im Einklang mit der Umwelt zu leben und zu wohnen. Ein rundes Dutzend Menschen baut sich in Dörpe Häuser, bei denen eines möglichst gering ausfallen soll: der Energieverbrauch.

Begonnen hat alles mit einem Traum: Ein Haus sollte geschaffen werden, das zur Gänze ohne herkömmliche Energie beheizt werden kann. Sechs Jahre waren Fachleute mit der Entwicklung des Null-Energie-Hauses beschäftigt, zwei Jahre wurde gebaut, und dann stand 1989, was damals ein Pionierbau war.

Das liebevoll „Nulli“ genannte Fichtenholz-Gebäude verfügte über eine mächtige Dämmung aus bis zu 55 Zentimeter dicken Altpapier-Schichten und Wärmeschutzfenstern, die die Wärmeverluste möglichst gering halten sollten. Kühlere Pufferräume an der Nordseite des Gebäudes und schwere Dämmschiebeläden vor den Fenstern sorgten für zusätzliche Isolierung. Im Winter sollte mit der über Monate in einem 10.000-Liter-Wassertank gespeicherten Wärme geheizt werden. Erhitzt werden sollte das Wasser während der wärmeren Jahreszeit durch Sonnenkollektoren auf dem Dach.

Anfangs war „Nulli“ ein bewohntes Labor. „Während der Forschungsphase waren wir ganz schön eingespannt mit der Bedienung der Meßcomputer“, erzählt Hausbewohner Norbert Schiemann. Heute „lebt es sich ganz normal“ in dem sonderbaren Bau, der sich allerdings nicht mehr im Urzustand befindet. Denn es stellte sich heraus: Während die Isolierung hervorragend dichthielt, konnte der Wassertank die Wärme nicht lange genug halten und wurde schließlich ausgebaut. Heute wird nur noch das Brauchwasser durch die Sonne erhitzt, ergänzt durch eine Gasheizung.

Trotz der Rückschläge, betont Schiemann, sei das Projekt wichtig gewesen: „Vieles war technisches Neuland, das mußte einfach einmal ausprobiert werden.“ Vor allem aber wirkte das Ökohaus wie ein Katalysator für umweltgerechtes Bauen: Wie ein Magnet zog der Modellbau Besucher aus ganz Deutschland an.

Doch Veränderungen zeigten sich nicht nur in der Ferne, sondern auch in Dörpe selbst. Die Dorfbewohner, sagt Angelika Holweg, alteingesessene Dörperin, hätten das außergewöhnliche Gebäude „sehr interessiert aufgenommen“. Von dem Projekt habe dann „eigentlich das ganze Dorf ein bißchen Früchte getragen“: Zwei Scheunen wurden zu Niedrigenergiehäusern umgebaut, einige Bewohner erwärmen ihr Brauchwasser inzwischen durch die Sonne, weitere Ökohäuser entstanden. Und es kamen neue und junge Leute nach Dörpe, das einmal in der Gefahr stand, zu vergreisen.

Denn manche waren von dem Projekt so fasziniert, daß sie hängenblieben. Ulrich Karbe ist so einer. Dem heute 32jährigen Tischler aus Hamburg hatte „die konventionelle Arbeit ziemlich gestunken“. Durch das Null-Energie-Haus kam er nach Dörpe, arbeitete am Bau mit und ist „nicht mehr weggekommen“. Wie andere einstige Projektmitarbeiter und ehemalige Beschäftigte des nahegelegenen Energie- und Umweltzentrums – an dem die Idee für das Null-Energie-Haus entstanden war – baut Tischler Karbe nun am eigenen Heim. Das Zweifamilienhaus soll in jeder Hinsicht ökologischen Bedingungen genügen. Eine Regenwasser-Sammelanlage kann 7000 Liter Wasser aufnehmen, das über eine Solaranlage erhitzt wird. Geheizt wird mit Holz, das in einer Vergasungsanlage schadstoffarm verbrannt wird. Zur Dämmung dient nach wie vor gepreßtes Altpapier.

„Eigentlich könnten wir den Bau niemals bezahlen“, sagt Karbe. Doch die umweltbewußten Handwerker haben zusammen mit einem auf Ökobauweise spezialisierten Architekten aus Dörpe eine Lösung gefunden: sie errichten ihre Häuser zum größten Teil im Eigenbau und helfen sich gegenseitig mit Arbeiten und Geräten aus. Das Prinzip ist einfach: „Peter hilft mir im Garten und ich ihm beim Hausbau“, erklärt „Nulli“-Besitzer Schiemann. Einen stolzen Namen haben sie für ihre Tauschwirtschaft auch schon gefunden: Dörpe-Dollar.