Reisebilder aus der Absurdität

Wie soll man die kubanische Realität in Bilder fassen? Wie in Bildern Widersprüche auffangen? Digitale Techniken eröffnen ungeahnte Möglichkeiten für die Reportagefotografie, meint  ■ Michael Najjar

Die Kubaner sind stolz auf ihr Land und auf die Errungenschaften der Revolución. Wenn man sie aber fragt, ob sie mit dem politischen Regime zufrieden seien, dann wünschen sie die Revolución und mit ihr Fidel Castro zum Teufel.

Fidel ist ein Phänomen. Niemand weiß, wo er ist, wo er lebt, von wo aus er seine Regierungsgeschäfte tätigt, und gesehen hat ihn auch schon lange niemand mehr. Außer natürlich im Fernsehen, bei seinen Ansprachen an das Volk. Da sitzt die Familie vereint im Wohnzimmer vor dem alten russischen Schwarzweißfernseher und lauscht den Worten des greisen, aber immer noch außergewöhnlich charismatischen Staatschefs.

Castro ist allgegenwärtig, ohne daß ihn wirklich jemand zu Gesicht bekommt. Seine mediale Präsenz manifestiert sich vor allem auf riesigen Plakatwänden und auf dem Bildschirm. Im Grunde ist Castro ein Phantom, denn er könnte auch schon ein paar Jahre tot sein und nur medial am Leben gehalten werden. Es hätte wohl niemand bemerkt. Wer weiß, vielleicht ist Che ja doch noch am Leben – in Kuba ist alles denkbar.

Das eigentlich Aufregende sind nicht die Orte selbst, sondern der Weg dorthin. Ich kaufe mir Zugtickets für Züge, die es gar nicht gibt. Ich kann in einen leeren Bus nicht einsteigen, weil ich mir laut Vorschrift das Ticket sieben Tage im voraus kaufen muß. Ich verbringe in glühender Hitze Stunden auf der Ladefläche eines Lkws, zusammengepfercht mit fünfzig anderen Passagieren. Ich warte auf private Mitfahrgelegenheiten, die mir ihre Dienste anbieten, aber vorher erst mal stundenlang herumfahren, um das Benzin für die eigentliche Fahrt aufzutreiben.

Und trotzdem reise ich fast 3.000 Kilometer durch dieses Land der Widersprüche. Bei all den Eindrücken und Erfahrungen, die ich gemacht habe, ist zumindest eines klargeworden: Die Logik des Systems liegt darin, daß es keine Logik gibt.

Ich habe fotografiert auf dieser Reise. Jeden Tag, bei jeder Gelegenheit. Wie aber soll man die kubanische Wirklichkeit in Bilder fassen, wie läßt sich das Absurde dokumentieren? Diese Frage hat mich zu einer grundsätzlichen Überlegung in bezug auf die Reportagefotografie veranlaßt.

Die Vorstellung, ein Foto sei ein korrektes Abbild der Wirklichkeit, existiert, seit es das Medium Fotografie gibt. Insbesondere die Reportagefotografie ist seit je von einer Aura der scheinbaren Wahrheit umgeben, die sich aus der Immanenz der Fotografie (so ist es gewesen) ergibt. Der Mythos der objektiven fotografischen Darstellung unterdrückt bis heute die subjektiven Aspekte der Fotografie. Dies gilt im besonderen für die Reportagefotografie. Unsere visuelle Wahrnehmung funktioniert so, daß wir glauben, was wir auf einem Foto sehen.

Mit dem Aufkommen der neuen digitalen Technologien, insbesondere der Möglichkeit der digitalen Bildverarbeitung, wird unsere visuelle Wahrnehmungsordnung in ihren Grundfesten erschüttert. Endlich! Ich habe mich bei meinen Reportagefotos dieser Techniken bedient. Durch ihren bewußten Einsatz habe ich ein Gestaltungsmittel gefunden, das es mir ermöglicht, das Absurde zu thematisieren.

Die Immanenz des neuen digitalen Surrealismus, den man auch als Hyperrealismus bezeichnen könnte, ist die perfekte Täuschung. Digitale Bilder müssen sich nicht mehr zwangsläufig dem Referenzobjekt, dem Licht oder den Farben unterwerfen.

Der digitale Eingriff in ein Bild ermöglicht das Einfügen einer neuen Wahrnehmungsebene, die im analogen Foto nicht vorhanden war. Es stellt sich die Frage, ob ein digital bearbeitetes Foto, insbesondere ein Reportagefoto, deswegen weniger wahr ist oder gar als Fälschung bezeichnet werden kann. Ich meine, nein. Das Gegenteil ist der Fall.

Bilder sind nicht dazu da, die Wirklichkeit zu beglaubigen, sondern sie zu deuten. Aus diesem Grund stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob Reportagefotos manipuliert werden dürfen oder nicht, sondern wie. Voraussetzung ist, daß die digitale Veränderung bei genauerem Studium des Fotos sichtbar und nachvollziehbar wird. Die Bildaussage, die sich dem Betrachter auf den ersten Blick erschließt, hält er für wahr, er glaubt dem, was er sieht. Bei genauerer Betrachtung muß er seinen ersten Eindruck aber überdenken, er entdeckt eine neue Bildinformation, die die erste angebliche Wahrheit in Frage stellt, und er kommt zu der Erkenntnis: „So kann es doch nicht gewesen sein.“

Und genau diesen Eindruck hatte ich während meiner Reise in Kuba. So kann es unmöglich gewesen sein. So wa(h)r es aber ...