"Ich verkaufe keine Kleider"

■ 15 Jahre war sie jede Nacht unterwegs. Heute bleibt sie zu Hause, ihre Bilder sind zu Dokumenten einer vergangenen Ära geworden. Fotografin Nan Goldin über Mode, Kunst, Geld und die Parties von gestern

taz: Die Diashow „The ballad of sexual dependancy“ existiert seit Anfang der achtziger Jahre. Trotzdem arbeiten Sie jede Präsentation neu aus. Welche Beziehung bleibt nach so langer Zeit übrig?

Nan Goldin: Meine Arbeit interessiert mich weniger formal als vom Inhalt her. Wenn ich die Dias überprüfe, achte ich im wesentlichen auf den Übergang zwischen den einzelnen Aufnahmen, weil es eher um einen Film, um die fließende Bewegung der Bilder geht. Außerdem brauche ich jedesmal eine ganze Weile, um mir die Menschen auf den Fotos anzusehen. Gerade ist wieder eine der Hauptfiguren gestorben, das nimmt mich ziemlich mit.

Glauben Sie, daß man diese Beziehung im Museum nachvollziehen kann?

Die einzelnen Fotos sind für mich keine Objekte. Vielmehr bilden sie Gruppen und Erzählungen, die sich gegenseitig durchdringen. Mir geht es um Dichte.

Aus der „Ballade“ sticht das Selbstbildnis „Nan one month after being battered“, 1984, mit blutunterlaufenen und blaugeschlagenen Augen wie eine Ikone hervor. Stört Sie die Festlegung nach so langer Zeit nicht?

Jeder Fotograf schafft Ikonen, genau wie jeder Film auch. In „Panzerkreuzer Potemkin“ ist es der Kinderwagen, der die Treppe herunterrollt. Das ist der Rahmen, der den Film nachher definiert.

Trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen fotografischer Arbeit und Lebensgeschichte problematisch – seit 1984 wird Ihre künstlerische Entwicklung gerne auf das dramatische Selbstporträt reduziert.

Aber auf diese Weise betrachte ich die Fotos nicht. Ich weiß, wie nahe mir die Menschen stehen, die ich fotografiert habe. Je älter ich werde, um so mehr wird mir mein privater Umgang, mein privates Interesse bewußt, und ich fühle mich immer mehr für meine Freunde verantwortlich als für meine Arbeit mit Ausstellungen im Museum. Unter den etwa 700 Dias zu „Ballad of sexual dependancy“ gibt es für mich so gut wie keine Unbekannten.

Mitunter hat auch Larry Clark damit zu kämpfen, daß er die Junkie-Szene von „Tulsa“ überlebt hat. Nur ist bei ihm daraus ein Authentizitätskult um Jugend und Rebellion geworden.

Ich respektiere seine Arbeit, er hat mich sehr beeinflußt. Aber die Themen, mit denen er sich jetzt beschäftigt, sind mir fremd. Ich möchte mich nicht unbedingt als 18jähriger Skateboarder versuchen. Statt dessen fotografiere ich meine Freunde, wie wir zusammen alt werden, mit allen Veränderungen. Das bedeutet für mich nicht, die Vergangenheit glorifizieren zu wollen. So wie es war, war es gut, zu seiner Zeit. Manches ist schlecht gelaufen, Menschen sind gestorben; und nun geht es weiter, in der Gegenwart. Deshalb möchte ich nicht noch einmal Teenager spielen.

Diesen Wandel merkt man den neuen Fotos an: Die Leute sind ruhiger in Szene gesetzt, nicht mehr so konfus und aufgeregt wie bei Aufnahmen aus der New-Wave- Zeit.

Mit 20 bist du ziemlich unsicher, alles dreht sich um Identität. Die Clubs, die Drogen, es ist ein Chaos, in dem du dich bewähren willst. Die Verbindung zu den Leuten, die ich damals kannte, hatte etwas von Warhols Factory oder John- Cassavetes-Filmen, wo auch immer die gleichen Figuren mitspielen. David Wojnarowicz, Peter Hujar oder Cookie Muller waren tatsächlich Teil des Starsystems, man erkannte sie auf der Straße.

Auf den alten Fotos verhalten sich alle Personen äußerlich, sie spielen mit Gesten, aus denen man nicht schlau wird; heute geht es mir um Beziehungen, die innerlich zwischen mir und den anderen ablaufen. In Clubs gehe ich dagegen vielleicht noch ein-, zweimal im Jahr. Das reicht, schließlich war ich 15 Jahre lang jede Nacht unterwegs.

Sie haben gesagt, Sie mögen zwischen Biographie und Geschichte nicht trennen. David Wojnarowicz hat seinen Aidstod vor allem auch politisch ausgefochten.

Ich habe mich nie als Teil einer bestimmten Bewegung verstanden. Die Leute bilden sich viel darauf ein, wenn sie etwas zu Geschichte erklären können. In Bruce McLeans Film über das Leben von David Wojnarowicz sieht man ihn und Peter Hujar als Liebespaar, obwohl die beiden nie etwas miteinander hatten. Weil dies Bild aber nicht zu den Vorstellungen paßte, die sich die Leute von David und Peter gemacht hatten, wurde die Biographie im Film umgeschrieben. Als meine Retrospektive vergangenen Herbst im New Yorker Whitney Museum gezeigt wurde, spielte auch der Zweifel an der Echtheit meiner Fotos bei einigen Kritiken eine große Rolle. Man warf mir vor, ich hätte auf dem „Battered“-Foto Perücke und Make-up getragen. Aber es gibt Frauen, die jeden Tag Lippenstift benutzen, egal was passiert, und zu denen gehöre auch ich. Das ist wie mit duschen – niemals ohne Lippenstift; mit Täuschung hat es nichts zu tun. Zum anderen habe ich eine Freundin deshalb gebeten, das Foto von mir zu machen, weil ein Stück vom Knochen der Augenhöhle zersplittert war und ich ein zweites Mal operiert werden mußte. Es war der Tag der Operation, und ich wollte mein Gesicht im Bild festhalten, damit ich nicht doch wieder zu dem Mann zurückging, der mir das angetan hatte.

Nach diesen Erfahrungen muß es Sie doch aufregen, wenn Blutergüsse heute als Markenzeichen der Modefotografie genutzt werden?

Die jungen Modefotografen geben zumindest zu, daß sie von mir abgucken. Sie nehmen meine Bücher mit auf den Set, um solche Bilder nachzustellen. Ich weiß nicht, wieviel das mit meinem Leben zu tun hat, aber der Unterschied ist: Ich verkaufe keine Kleider. Das ist ein enormer Unterschied, so wie der zwischen Pornographie und Erotik. Es geht ums Geld, und der Unterschied zwischen Mode und Kunst ist auch Geld, selbst wenn die Grenzen schmaler geworden sind. Hugo Boss investiert in Ausstellungen, weil das Museum kein Geld hat – und Wolfgang Tilmanns und Juergen Teller werden als Künstler angesehen.

Wie sich Underground zum Mainstream gewandelt hat, konnten Sie bei Ihren Berlinreisen 1984 und 1991 als Gast des DAAD ja ganz gut beobachten.

Berlin war plötzlich nicht mehr der verlängerte Arm des East Village, das stimmt. Und der Rest hatte sich auch geändert – aus den Bekannten von damals waren Mütter geworden. Für mich bestand die Zeit, als ich Ende 30 war, aus einem Interesse am Überleben. Meine Generation ist besonders von Aids getroffen, darum fällt es mir schwer, mich noch mal auf dieses Partygefühl einzustimmen. Für die Generation, aus der Wolfgang Tilmanns stammt, mag da wieder ein großes Interesse an Techno, Sex und Drogen bestehen, das habe ich hinter mir. Irgendwann zählt es nicht mehr, ob man Underground ist oder wo der neueste Laden aufgemacht hat. Wen kümmert's. Ich möchte in dieser Hinsicht keinen Mythos um mich aufbauen. Eine Menge Leute machen inzwischen Schnappschüsse vom Leben, so wie ich daraus eine Kunstform entwickelt habe. Natürlich glaube ich nach wie vor, daß im Foto ein Moment der Wahrheit liegt, sonst würde ich sicher nicht weitermachen. Darin liegt die Kontinuität, die ich auch bei anderen Künstlern wiederfinde: Edvard Munch, Egon Schiele. Munchs Werk besteht nur aus Bildern seiner Liebesgeschichten.

Sie meinen, Kunst bleibt immer und vor allem Ausdruck einer persönlichen Beziehung zu anderen?

Eine Freundin wie Kathleen hat mir erzählt, sie hätte gar nicht gewußt, wie schön sie aussieht, bevor ich Fotos von ihr gemacht habe. Du kannst mit Fotografie den Menschen einen Zugang zu sich selbst geben – aber du mußt dich auch selbst hingeben können. Ich habe Freunde fotografiert, seit ich 15 Jahre alt war, dahinter gibt es keine Theorie. Mir sind die Leute wichtig, das reicht. An manchen Tagen habe ich zwar das Gefühl, als würden die Menschen aussehen wie auf einem schlechten Trip, als wäre ich von lauter Freaks umgeben, aus denen das Böse hervorscheint. Aber das halte ich aus meiner Arbeit heraus, nur die Liebe zählt. Schau dir Caravaggio an: Er hat seine Liebhaber gemalt. Ein Bild kann also durchaus Kunst sein, obwohl es persönlich ist. Interview: Harald Fricke

Nan Goldin: „I'll be your Mirror“. Bis 4. Mai im Kunstmuseum Wolfsburg. Katalog 59 DM