Jugend zertritt Vitamine

■ Die neuen Zeiten in Bulgarien machen auch nicht verrückter als die alten: „Später Vollmond“ im Forum

Der alte Goscho hat den Sohn, die Schwiegertochter und seinen Enkel, das kleine Ekel, in seine Eigentumswohnung aufgenommen. Der Sohn ist ein windiger „Bisnessman“ und impotent, seit die Schwiegertochter als Porno-Model arbeitet. Unterdessen klaut der Enkel und übt schon mal mit geladenen Waffen. Goscho macht das nicht verrückt, sondern fassungslos: Dicke Luft.

Daß der bulgarische Regisseur Eduard Sachariew ein sozial verbindliches, ethisches Wertgefüge wenn nicht vermißt, so doch wenigstens durchspielt, ist unübersehbar – schließlich bestellt er den alten Goscho zu dessen Hüter. Doch Predigen ist Sachariews Sache nicht: Immer wieder läßt der Regisseur den Alten – und das Alte – gegen das wirkliche Leben antreten. Goscho ist teils Petrus, teils Ernesto Cardenal, wenn er so durch die neuen Zeiten taumelt. Da niemand ihm zuhört noch ihn versteht, unterhält er sich mit einem Kakerlak.

Die neuen Zeiten haben den Bulgaren neben Sex, Crime und Rock 'n' Roll auch die Psychoanalytiker gebracht. „Die Welt steht kopf, und sie will Pädagogik“, wirft Goschos Sohn seiner in Analyse befindlichen Gattin Tamara entgegen, als die das entgleisende Söhnchen Emo zu bändigen sucht. Damit kommt gleich zu Anfang die Philosophie und am Ende sogar das große Ost-West-Mißverstehen ins Spiel. Denn Goschos alter Kumpel ist ausgewandert und reich geworden. Jetzt zertritt er im Luxushotel die Schaben – „unsere Schaben“, sagt Goscho und „wir sind keine Bettler“, doch dabei steht er auf einem Müllhaufen.

Alles ist ganz heiterer Simplicissimus, Odyssee, absurde Gottsuche und blauer Minimalismus, manchmal secondhand, aber immer knapp und grotesk. Je mehr sich der Film dem Finale nähert, desto dunkler geraten seine Farben. Der alte Goscho überschreibt seinen Kindern die Eigentumswohnung und wird genötigt, ins Altersheim zu ziehen, das alsbald von einer Jugendbande – der Zukunft häßliche Fratze! – überfallen wird. Jugend zertritt Vitamine, Goscho hingegen unternimmt gemeinsam mit drei flotten Greisenfreunden einen Assimilationsversuch ans Zeitalter des Bösen und „Bisness“: Sie wollen den Beruf des Bankräubers ergreifen. Doch schon bei der Probe für den Bankraub trifft einen der vier vor Schreck der Schlag. Am Ende landet Goscho beim Herrn der Müllhalden, der Müll-Diplome zu vergeben hat, denn Müll ist zwar das Ehrlichste, was es auf dieser Welt gibt, andererseits aber auch nur Mänovriermasse fürs „Bisness“. Wer da keine Miene verzieht.

Eduard Sachariew ist 1996 im Alter von 58 Jahren gestorben; nach diesem Film würde man das gern ungeschehen machen. Im Altersheim schreitet beim Essen eine bestiefelte Schwester die Tische im Stechschritt ab. Der Staat beschützt das Geld – die neuen Zeiten machen nicht verrückter als die alten. Anke Westphal

„Später Vollmond“ (Zakasnjalo Palnolunie“). Bulgarien/Ungarn 1996, 117 Min. Regie: Eduard Sachariew. Mit Itzak Finzi, Nikolai Urumow u.a.

20.2.: 19 Uhr Babylon im Zeughaus