Ist der Winter in Deutschland überflüssig?

Eine Debatte unter deutschen Linken hat zwei Voraussetzungen: Es darf um nichts gehen, und dafür müssen alle Register gezogen werden. Deshalb in der versprochenen Fortsetzung unseres kleinen Debattenreigens hier die Mutter aller Debatten:

Pro

Drei Sommermonate gibt es hier gerade mal – muß man jedoch schon Schweineglück haben –, wo man nicht bibbert und auch spät abends noch in Straßencafés herumlungern, Blödsinn quatschen und versuchen kann, mehr zu trinken als – sagen wir mal – Harald Juhnke, also genau das tun kann, was das Leben erträglich macht. Den Rest des Jahres ist Deutschland eine triste, grau-trübe Soße, dunkel, regnerisch, matschig und pampig, versuppt und versifft, mit einem Wort: ekelerregend. Oder anders: Der Graupelschauer ist ein Meister aus Deutschland. Trübe werden dann auch die Gedanken, weshalb Deutschland das Land der mißlaunigen Muffel ist. Warum sonst wohl boomt die Tourismusbranche trotz steigender Arbeitslosigkeit? Weil niemand die Folgen der durch alle Ritzen dringenden Kälte erträgt und niemand mehr den Miesepeter sehen will, der man selber ist.

In Berlin ist es besonders schlimm. Wer hier nicht mindestens so dickfellig ist wie die in mehreren Lagen übereinandergetragene Wintergarderobe, der macht es hier nicht lange. Denn draußen springt ihn an jeder Straßenecke kläffende und barsche Unhöflichkeit an, es sei denn, man heftet den Blick starr aufs Pflaster, um den im Weg liegenden Hundekot zu umkurven, hat sich Ohropax in die Gehörgänge gestopft und hält Mund und Nase fest verschlossen. Hat man sich schnell in seine Berliner Altbauwohnung verkrochen, direkt neben dem randvoll gefüllten Kachelofen, ein kluges Buch lesend, da meldet sie sich leise und aufdringlich zurück, die bohrende Kälte. Denn während oben der Kopf vor Hitze glüht, kriecht sie von unten langsam und mit widerlicher Penetranz die Knochen bis in die Fingerspitzen hoch und tiefgefriert alles, was sich circa einen halben Meter über dem Fußboden bewegt. Natürlich kann man seine Füße in ein wärmendes Bad tunken, aber will man sich dann – endlich einigermaßen zufrieden – eine Zigarette anzünden, um das Wohlbefinden quasi bis zum Exzeß zu treiben, dann liegt die Rauchware an einem Ort, der von einem im Eimer steckenden Süchtigen nicht zu erreichen ist. Und schlagartig ist die mühsam hochgepäppelte Laune wieder futsch.

Das ist aber sozusagen nur die Spitze des Eisbergs, den wir durch den Winter zu erleiden haben. Es ist also nicht allein die Kälte selbst, sondern diese permanente Umständlichkeit, dieses ständige Gezwungensein, Vorbeugemaßnahmen gegen sie zu ergreifen. Bei ausreichender Sonnenbestrahlung hingegen muß man nicht darauf achten, daß alle empfindlichen Körperteile dick verpackt sind, deren im Alter immer mehr werden, man wird nicht gezwungen, mit auftragendem Mantel, klobigen Schuhen und entstellender Wollmütze als ästhetische Zumutung herumzulaufen.

Doch, auf den Winter will ich gern verzichten, denn er ist nicht nur kalt, sondern er ist auch sexualfeindlich, wenn nicht sogar sexistisch, und es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch rassistisch wäre, wahrscheinlich ist er sogar ein verkappter Nazi. Also verpiß dich, Winter! Klaus Bittermann

Contra

Es ist kein Wunder, daß die Bürgerkinderthese von der angeblichen Überflüssigkeit des Winters geradezu hier in der Kinder-FAZ verbreitet wird; ebensowenig vermag es zu erstaunen, daß die Hetze gegen sibirische Temperaturverhältnisse von Klaus Bittermann vorgetragen wird, jenem Klaus Bittermann, dem Dadaismus, Surrealismus, Situationismus und Anarchie immer mehr bedeutet haben als das Wohl des Volkes. Im Gegenteil: Die Forderung des Defätisten Reinhard Lettau, das Volk abzuschaffen, unterstützt Bittermann ausdrücklich; außerdem unterhält er Kontakte zu ehemaligen TrotzkistInnen. Ich weiß es doch!

Mit der Unverfrorenheit des notorisch Durchgefrorenen denunziert Bittermann jene Kälte, die einst Hitlers Sechste Armee niederwerfen half, er sehnt sich hingegen nach Verhältnissen, in denen der Wüstenfuchs Rommel einst gedieh. Das sagt ja wohl alles: Wer nicht frieren will, will Krieg! Die Temperaturen, von denen Bittermann träumt, sind die Temperaturen, die Hitler erst möglich gemacht haben! Oder so.

Man sieht ihn schon bei sommerlichen Temperaturen, leichtbekleidet mit nichts drunter und weiße Espadrilles an den Füßen: Klaus Bittermann, der konsumfreudige Citroän. Ich aber sage: Die weißen Schuhe sind müde!

Durch und durch suspekt ist der Frostknoten; bibbernd hockt er auf dem Kanonen-statt-Butter-Ofen, der unsichere Kantonist. Wer dagegen den Winter versteht, der liebt ihn. Bereitwillig nimmt er den Aggregatzustand eines Hilfsbären an und wärmt. Er verwandelt sich in einen Petschinek – so nennen Russ' wie Russin einen kleinen Ofen – und bullert. Fröstelnden Frauen bietet er großzügig Unterschlupf, denn Frauen, das haben amerikanische Wissenschaftler bewiesen, frösteln oft arg. Doch Dr. Petschinek verströmt brummend und behaglich Wärme. Er weiß, daß Männer, die diesen Namen verdienen, Wärmflaschen mit Ohren sind. Sein Lebensmotto heißt: Sorge dich nicht, bullere! Und gerne sieht er dabei zu, wie von gemütlich eingepackten Kindern unter pädagogischer Anleitung Schneemänner und Schneefrauen gebaut werden, die Schneefrauen archaisch gestaltet und die Schneemänner dürr und klapprig wie ein Frostköttel, mit einer Gurke, einer grünen Schlangengurke auf halbmast, und schwarzen, halblangen Socken an den Füßen, mit Geräten also, die ab sofort nur noch Pornosocken heißen sollen, Pornosocken, jawohl!

Gerade unter diesen Umständen erscheint es geradezu skandalös, wie in diesem Land wieder (!) gegen den Winter zu Felde gezogen werden darf. Ist es wieder soweit? Wo man den Winter beschimpft, da beschimpft man bald auch Menschen! Dazu dürfen wir nicht schweigen! Nie wieder darf auf deutschem Boden der Frost auftauen! Wehret den Anfängern!

Bittermann – dein Name ist Programm! Doch dir und deinem Casino-Kapitalismus, dir und deinem Cocktail-am-Pool-Faschismus erteile ich mit allen anständigen Menschen in diesem Land eine deutliche Absage: Allein schon wegen Stalingrad – Wir stehn auf minus vierzig Grad! Jau! Wiglaf Droste