Die Nacht ist nicht zum Schlafen da

In einer Hamburger Turnhalle gehen um Mitternacht die Lichter an: Mit Midnight-Basketball und HipHop-Musik werden Jugendliche von der Straße geholt. Allerdings nur die Jungens  ■ Aus Hamburg-Horn Per Hinrichs

Dominik wartet die Frage gar nicht erst ab. Kühl den Besucher musternd, legt er den Kopf zur Seite, streicht die braunen Strähnen aus dem Gesicht und sagt, so lässig, wie ihm das mit seinen vierzehn Jahren gelingen will: „Du willst doch nur hören, daß wir sonst auf der Straße hängen und Autos knacken.“ Dann grinst der Junge, als ob er gerade drei Körbe hintereinander geworfen hätte, und läßt sich ins laufende Spiel seines Teams einwechseln.

Freitag, zwanzig Minuten vor Mitternacht dröhnen „2 PAC“ und seine Gangsta-Rap-Kollegen aus Boxen durch die kleine Turnhalle der Gesamtschule Hermannstal in Hamburg-Horn. Die Wände der Umkleideräume haben Schüler mit Sprüchen übersät. „Paddy Kelly are the best boy from the world“ steht da, „Ich liebe Robby forever“ oder auch „Fatima ist eine Schlampe“. Es riecht nach Linoleum und kaltem Schweiß. Midnight-Basketball steht auf dem Stundenplan von Dominik und dreißig anderen Jungen in der üblichen Uniform: Nike-Turnschuhe, seitlich zuknöpfbare, viel zu weite Hosen und Trikots aus der amerikanischen Profiliga NBA.

Mladenka Dittmer, Basketballtrainerin des Hamburg-Eimsbüttler Turnvereins, leitet mit ihrem Mann Uwe das Training. Bis ein Uhr morgens läßt sie die Zwölf- bis Zweiundzwanzigjährigen Teams bilden und drauflosspielen. Sie pfeift grobe Verstöße wie Körperfouls, einfache Schrittfehler werden ignoriert. „Darum geht's ja auch nicht, wir daddeln nur rum“, sagt Mladenka Dittmer. Die Mannschaften à acht Jungs spielen im fliegenden Wechsel, Punkte zählt keiner. Und doch mischen sich auch ein paar Vereinsspieler unter die Streetballer. Wie Dennis, 14: „Hier will ich nur Spaß haben“, sagt er. „Ich muß nicht gewinnen.“ Er kommt seit dem ersten Mal fast immer zum Midnight-Basketball.

Seit August vergangenen Jahres prellen, passen und posieren Jugendliche in der Horner Sporthalle. „Wir wollen sie von der Straße weg haben. Da würden sie sonst nur herumhängen“, sagt Lutz Peters, einer der Mitbegründer des Mitternachtsbasketballs. Das Beispiel hat schon Schule gemacht: Andere Bezirke am Rande der Stadt haben nachgezogen und locken die Jugendlichen ebenfalls in die Turnhallen. Das Konzept kommt, na klar, aus Amerika. „In Chicago hat sich das vor ein paar Jahren schnell etabliert“, sagt Peters. „Die Kids gehen eben immer später weg. Und dann gibt's keine nichtkommerziellen Angebote mehr.“ Doch in den USA kommt Midnight-Basketball in vielen Städten buchstäblich lebensrettende Funktion zu: Die Sporthalle wird zur Schutzzone – und für so manchen Jugendlichen zur Alternative zum Dauerhausarrest, den ihre Eltern nicht als Strafe, sondern als Vorsichtsmaßnahme gegen die Omnipräsenz von Schußwaffen und Drogenkriminalität verhängen.

In Deutschland hielt Midnight- Basketball 1995 Einzug, als im Arbeiterviertel Köln-Kalk die Sozialarbeiterin Inge Mewes die Zutaten für die nächtliche Jugendarbeit organisierte: Trainer, Bälle und eine Stereoanlage.

Der 37jährige Sozialarbeiter Lutz Peters, selbst Basketballer, hat den Midnight-Basketball als erster in Hamburg mit einigen Freunden, Jugendkreisen und Sportvereinen auf die Beine gestellt. Die Musikanlage, Bälle und Trikots hat ein benachbartes Einkaufszentrum gespendet, das Geld für die Betreuer zahlen Jugendamt und Hamburger Sportjugend. „Zuerst hatten wir mehr als hundertfünfzig Jungen und Mädchen. Jetzt hat es sich bei dreißig eingependelt. Leider sind die Mädchen weggeblieben.“ Das liege wohl an der Uhrzeit; die Eltern wollten Mädchen nicht so spät noch weglassen. Es liegt wohl auch am Machismo, mit dem diese Mischung aus HipHop, Sport und Verehrung für Michael Jordan und Co. behaftet ist.

Wer sich wundert, daß sich Zwölfjährige so spät noch austoben dürfen, bekommt ausweichende Antworten: „Ach, meine Alten“, winkt Ben ab. „Die mögen das vielleicht nicht, aber was soll's. Ich geh' ja doch hin.“ Und wenn er mal nicht geht? Da fliegt ein Lächeln über sein Gesicht: „Mann, da penne ich, was denn sonst?“ Schlafen – Fernsehen – Nichtstun: das ist die Freizeitalternative für die Horner Dribbelkünstler. Sagen sie zumindest. Im „unterprivilegierten“ Stadtteil, wie das Ortsamt Billstedt den Bezirk selbst einstuft, hängen viele Jugendliche abends an der U-Bahn-Station Horner Rennbahn oder am Einkaufszentrum Jenfeld herum. Da geht auch mal eine Scheibe kaputt. „Wenn wir Mitternachtsbasketball haben, wissen wir, daß sie keinen Scheiß machen“, sagt Herbert Vetter, Polizeibeamter bei der zuständigen Revierwache 42. „Die fühlen sich als Verlierer, haben zuviel Frust. Der muß raus.“

Um gleich wieder angestaut zu werden. Jedes vierte Kind der 21.000 Horner Jugendlichen unter achtzehn Jahren wächst in einem Haushalt auf, der Sozialhilfe bezieht. Das sind doppelt so viele wie im Stadtdurchschnitt. Zwanzig Prozent der Einwohner im Bezirk sind Ausländer; beim Mitternachtsbasketball stellen Jugendliche aus der Türkei, aus Restjugoslawien oder Osteuropa die Mehrheit. Die Arbeitslosenquote beträgt in Horn 8,8 Prozent. Im benachbarten Billbrook ist jeder fünfte ohne Job. „Viele Kinder haben in ihrem Elternhaus keine geregelte Arbeit kennengelernt“, sagt Vetter.

Lutz Peters weiß, daß HipHop und Slam dunks keinen Ausbildungsplatz ersetzen können. „Aber wir versuchen die Jungs aufzubauen, ihnen das Gefühl zu geben, daß sie was können.“

Die Jungs wiederum zimmern sich ein Stückchen Identität aus ebenjenem Ghetto-Gefühl mit amerikanischem Anstrich. Horn – das ist der Autobahnanschluß, das Einkaufszentrum und Midnight- Basketball. Und die Jungs verwandeln sich in hartgesottene Streetballer: präsentieren stolz ihren Bizeps im Muskelshirt, ahmen den geschmeidig-wippenden Gang ihrer Idole nach und sehen dabei wie Marionetten aus, die die ersten Schritte ohne Fäden üben. Toben übermütig durch die Halle und versuchen den Ball mit einem gekonnten Sprung von oben mit den Händen in den Korb zu dreschen – und stolpern dabei regelmäßig über ihre eigenen Füße.

„Come on, Nigger!“ feuert Lyril, afrikanischer Abstammung, den noch dunkelhäutigeren Ben an. „Ein Schwarzer darf einen anderen Schwarzen Nigger nennen“, sagt er mit einer Spur von Stolz im Unterton. Fast bedauernd fügt er hinzu: „Obwohl ich nur ein halber bin.“

Auch im Spiel geben sich die Teams körperbetont. Da wirft sich Muhamed, der Verteidiger des roten Teams, kurz vor zwei Uhr im Eifer des Gefechts mit voller Wucht gegen Ali aus der gegnerischen Mannschaft. Beide knallen auf den Hallenboden. „Spasti!“ zischt der Hingeworfene. Muhamed pöbelt zurück, die Rauferei wird von Mladenka Dittmer gestoppt. Beide müssen in die Kabine abziehen, wo es zu einem heftigen Wortgefecht kommt.

Worum es eigentlich ging, weiß anschließend keiner mehr. „Wir mußten unsere Ehre verteidigen“, sagt Ali. „Ich wußte gar nicht, daß er auch Türke ist. Sonst wäre es nicht soweit gekommen.“ Gerade noch auf einen K.o. aus, verabschieden sie sich mit Wangenküßchen, links, rechts, links. War da was?

Eine Rempelei, ein Handgemenge, Wortgefechte, Wiederanpfiff – „solche Szenen kennen wir“, sagt Co-Trainer Enes, 25. „Es gibt immer ein paar Typen hier, auf die wir verstärkt aufpassen müssen.“

Und wer paßt auf die auf, die gar nicht erst kommen? Enes lacht. „Die Leute denken immer, wir holen Crash-Kids von der Straße. Daß wir die richtig Abgerutschten überhaupt noch erreichen, glaube ich nicht. Aber wir können verhindern, daß es noch mehr Typen von der Sorte gibt.“

Dominik jedenfalls will weiter zur Stammannschaft gehören. Auch wenn komische Journalisten manchmal stören. Wie neulich eine Reporterin vom Fernsehen. „Bei der sollten wir sagen, daß wir Scheiße bauen, wenn wir nicht hier hingehen würden.“ Und? „Haben wir natürlich gemacht. Wenn die Behörde das hört, dann bezahlen sie doch den Midnight-Basketball weiter.“