Wer gehört hier auf die Couch?

■ Seit das nordrhein-westfälische Sozialgericht die Erstattung von Therapiekosten für rechtswidrig erklärte, fürchten 600 Berliner Psychotherapeuten um ihre Existenz

Ein Blick in die Kartei seiner Patienten sagt Michael M., daß die nächste Zeit für ihn schwer werden wird. Der Berliner Diplompsychologe ist mit den laufenden Therapien ausgelastet, auch bekommt er ständig neue Anfragen. Allerdings sind fünfundneunzig Prozent derjenigen, die sich mit seelischen Problemen an ihn gewandt haben, bei der Techniker-Krankenkasse (TK) versichert.

Seit einem Urteil des nordrhein- westfälischen Sozialgerichts im Oktober letzten Jahres gilt die Erstattung der Therapiekosten bei selbständigen Klinischen Psychologen, die die TK als einzige Krankenkasse praktiziert, als rechtswidrig. Behandeln dürfen danach nur noch Therapeuten, die eine kassenärztliche Zulassung haben. Michael M. fürchtet seitdem um seine Arbeits- und Existenzgrundlage.

In einer ähnlichen Lage sind in Berlin etwa 600 Psychotherapeuten, gut ein Viertel aller Psychotherapeuten der Stadt. Sie betreuen ca. 10.000 Patienten. Bis jetzt konnten die bei der TK Versicherten ihre Rechnung über Therapiesitzungen direkt von der Krankenkasse erstattet bekommen. Diese Regelung besteht seit 1980 zwischen der TK und dem Berufsverband der Deutschen Psychologinnen und Psychologen (bdp).

Nun stehen sie plötzlich vor einer völlig ungeklärten Situation: Die kassenärztliche Vereinigung (KBV), eine Standesvertretung der Ärzte, hatte die TK auf Unterlassung dieser Praxis verklagt. Therapien werden momentan nur noch unter Vorbehalt des Widerrufs verlängert.

Da in Deutschland kassenärztliche Zulassung nur Ärzten vorbehalten bleibt, können in diesem Fall Psychologen nur im sogenannten Delegationsverfahren, das heißt unter der Anleitung eines Arztes, als „Heilhilfspersonen“ arbeiten. Genau dieses Verfahren empfinden viele Psychologen als entwürdigend, zumal wissenschaftliche Untersuchungen die Heilerfolge durch Psychotherapie belegen. Neue Therapieverfahren wie Gesprächs- und Gestalttherapie sind mittlerweile wissenschaftlich anerkannt.

Auch Michael M. hat sich deshalb vor zwanzig Jahren selbständig niedergelassen. Er muß feste Auflagen wie ständige Supervision und Fortbildung erfüllen. Auch die Qualität seiner Ausbildung wurde vom Berufsverband überprüft. Er sieht sich als hochqualifizierten Spezialisten, dem in dieser Situation nur der Rückgriff auf Erspartes oder Sozialhilfe bleibt.

Sein Berufsstand ist rechtlich nicht abgesichert. In der Bundesrepublik gibt es, anders als zum Beispiel in Österreich, kein Gesetz über psychotherapeutische Behandlung. Bereits seit 1978 wird versucht, ein solches Gesetz zu verabschieden. Es ist aber bisher immer an den divergierenden Interessen der Beteiligten gescheitert. Michael M. setzt nun alle Hoffnungen darauf, daß das Bundesgesundheitsministerium, wie zugesagt, noch im Februar einen Gesetzentwurf einbringt, der Psychologen und Ärzte gleichstellt. Dies würde seine Zusammenarbeit mit der Krankenkasse auf eine neue Grundlage stellen.

Der Berufsverband der Psychologen befürchtet eine schlagartige Unterversorgung, wenn das neue Gesetz nicht zustande kommt. Die bisher bestehende Sonderregelung entstand nämlich gerade, um den Patienten unverhältnismäßige Wartezeiten zu ersparen. Die KBV geht jedoch davon aus, daß es inzwischen genügend Ärzte und Psychologen im Delegationsverfahren gibt, die den Wegfall der Plätze auffangen können.

Den Patienten aber ist selbst mit einer baldigen Einigung nicht viel geholfen, denn das Urteil des Sozialgerichtes NRW ist diesen Monat veröffentlicht worden und damit sofort wirksam. Ein erzwungener Therapeutenwechsel oder ein Aufschub der Therapiebewilligung kann für sie fatale Folgen haben. Außerdem bedeute es für sie einen Rückschritt in der psychotherapeutischen Versorgung, wenn die angebotenen Methoden auf die kassenärztlich zugelassene Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Therapie und Verhaltenstherapie beschränkt werden. Astrid Ehring