Der Hang zur Paradoxie

Vom neuen Ungers-Bau bis zu den Deichtorhallen: Die Hamburger „Kunstmeile“  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der Zug braucht ungefähr eine Minute, bis er das Gebäude passiert hat: die römisch-italienische Bastion, den warmroten Post- Schinkel-Bau mit seiner patriarchalen Melancholie und dann, ja, dann... Eine am Sockel gekappte Pyramide, aus der ein Turm gewachsen ist, weiß, geschmirgelt, errechnet nach dem Einmaleins. Das – das alles – ist die Hamburger Kunsthalle, gegründet vor knapp 130 Jahren. Sie nimmt jetzt den ganzen Block ein, vom Hauptbahnhof bis zum Verkehrsknotenpunkt am Beginn der Lombardsbrücke. Man kann die Alster sehen, und die Alster schaut zurück.

Den dritten Abschnitt der Kunsthalle nach einem Entwurf des Kölner Architekten Oswald Mathias Ungers zu errichten, war 1987 entschieden worden. Kunst war damals die zentrale Metapher der sicheren Investition. Kultur und Wirtschaft umarmten sich zur Befruchtung – karikiert durch die Ehe des New Yorker Künstlers Jeff Koons mit dem italienischen Pornostar Ilona Staller. Die Sache ging so gut wie die Ehe dieser beiden, nämlich schief, aber mit Kind.

Ungers' weißer Turmbau triumphiert mit der neuen Bescheidenheit. Man kann noch 100 Millionen Mark für einen Neubau bewegen, aber es muß ja nicht gleich danach aussehen. Ein Großteil des Bauvolumens ist versteckt in einem unterirdischen Bau, bestehend aus Tiefgarage und Ausstellungsraum darüber. Eigentümlicher Kompromiß: Die Piazza, die sich zwischen den Altbauten und dem Neubau ergibt, ist ein rotes Plateau auf Augenhöhe, der schönste Hubschrauberlandeplatz der Welt.

Die Hamburger Kunsthalle ist gewachsen aus der ältesten deutschen Vereinigung, die sich jemals „Kunstverein“ nannte: Sie hat keinen fürstlichen Sammlungssockel, keine Paradestücke der italienischen Renaissance, keinen barocken Prachtsaal. Es ist eine örtliche Kunstsammlung, motivisch orientiert am Mischlicht, an den Wasserwegen, an der Ostsee: Caspar David Friedrich hat einen Saal, dessen bekanntestes Stück das „Eismeer“ ist. Philipp Otto Runge mit seinen biedermeierlichen Pausbackenfiguren wurde spät, aber nicht zu spät entdeckt. Der Konflikt der Hamburger Museumsdirektoren lag immer darin, daß ihre einzige Chance, zu Größe aufzulaufen, in der Systematik der Sammlung lag; andererseits mit den Kunstsammlungen, die der Kunsthalle überlassen oder ihr verkauft wurden, die rhizomatische Logik privater Sammlungen hineinwucherte. Es geht also um die Nachvollziehbarkeit einer kunsthistorischen Argumentation. Mit Hang zur Paradoxie: Der administrative Irrtum ist wenig später schon Bestandteil der Geschichte.

In Berlin, wo die Neue Nationalgalerie und der neue Hamburger Bahnhof zugestellt sind mit den zum Teil mediokren Gemälden aus dem Besitz des Blockbuster- Leihgebers Erich Marx, kann man die Auswüchse der Verstrickung zur Zeit bestens studieren.

Uwe M. Schneede, Direktor der Hamburger Kunsthalle seit 1991, hat dagegen etwas diplomatisch viel Komplizierteres begonnen: Mehr als 15 Sammler ergänzen den Bestand des Museums für die Kunst seit 1960. Das Risiko, ein bedeutendes Stück in absehbarer Zeit zu verlieren, mag dabei höher sein. Der Vorteil für das Museum jedoch ist, daß es keinem Riesen gegenübersteht. In Berlin hat man dem klobigen Ganzen das Gedächtnis geopfert: Eine „Kunst ohne Geschichte“ wird im Hamburger Bahnhof vorgezeigt. In Hamburg gilt das Gegenteil.

Der Parcours der sogenannten Galerie der Gegenwart umfaßt: die pure Malerei, die arme Skulptur, den listigen Konzeptualismus, das Licht David Hockneys. Die Rückkehr der Farbe, der Bosheit und der Figur (wie bei Thomas Schütte); die bange Frage nach der Austreibung des Geistes aus dem modernen Leib (durch Bruce Nauman); ein Dachkabinett mit vier prominenten deutschen Malern (Lüpertz, Baselitz, Polke und Richter).

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt brillante, auch völlig unbekannte Stücke; es gibt ein paar schöne Ausblicke auf den weißen Teil der Hansestadt. Es gibt Auslassungen in der Präsentation, die man verkraften kann, sofern man sie im Kopf hat (z.B. Kippenberger, Klapheck, Nam June Paik).

Die schlechte Nachricht hat zwei Teile. Teil A ist veränderbar: Der Hausherr hat sich weniger als versprochen an die Idee der Künstlerräume gehalten. Das gilt vor allem für die Fotografie, die heruntergestückelt ist zu Belegen. Jeff Wall wird nicht besser durch die Nachbarschaft von Cindy Sherman. Und wenn einer einen Raum für sich verdient hat, dann doch Bernhard Prinz mit genau der Serie „Blessur“, die die Kunsthalle gerade kaufte (taz vom 15.10. 1996) – und nicht Thomas Ruff, an dessen frei changierenden Motiven man sich weltweit sattgesehen hat bis ins Jahr 2010.

Teil B ist unabänderlich: Die Rigidität des Ungers-Baus ist von derselben allgemeinen Fühllosigkeit wie die meisten Neubauten von weniger reflektierten Architekten auch. Die Obsession mit dem Quadrat – als Grundriß und Baumodul – wäre hinzunehmen, wenn sie nicht als Megazeichen der Kunst die Schau stehlen würde: mit einem durchlaufenden Teerboden aus kachelgroßen Quadraten, wodurch jede Bodenskulptur gerastert wird; mit aufdringlichen unkaschierten Neonröhrenquadraten im Untertagegeschoß, die als gleißendes Motiv in der Raumflucht alle anderen Schubkräfte zum Stillstand bringen. Mit einem Innenhofschacht im Museumsturm hat Ungers einen Raum geschaffen, der vom Volumen viel nimmt und den Besuchern nichts zurückgibt. In Kombination mit dem Treppenhaus ergibt das eine Fülle an Glas, was aber nie auf Transparenz hinausläuft, weil ja alles geviertelt ist wie im Rechenheft.

Damit ist das, was die Hamburger wahrscheinlich ihre „Kunstmeile“ nennen werden, komplett. Sie beschreibt einen Bogen von 90 Grad um die kommerzielle Innenstadt. Auf dem nordwestlichen Ende also die Kunsthalle – die ja eigentlich ein klassisches Kunstmuseum ist – und auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs: der gelbe Koloß des Kunstgewerbemuseums; in der südlichen Flucht, Richtung Elbe, die beiden Deichtorhallen. Dazwischen, in der Markthalle, sind das Kunsthaus und der Kunstverein untergebracht.

Das Kunsthaus war der Showroom des Berufsverbands der Bildenden Künstler der Stadt gewesen. Es stand ehemals dort, wo der Ungers-Bau sich jetzt erhebt, ebenfalls als viergeschossiger Turm. Der Kunstverein war, zusätzlich, als Riegel in Richtung Kunsthalle quergelegt; dessen Direktor wiederum war, über Jahre, Schneede gewesen. Beide Gebäude – eilige Lauben vom Anfang der 60er – wurden 1992 abgerissen, um der Erweiterung der Kunsthalle Platz zu machen.

In der Markthalle haben beide Institutionen eine schwierige Position in zentraler Lage. Das Kunsthaus, geleitet von Claus Mewes, hat sich von den engen Fesseln des Berufsverbands frei gemacht und zeigt lebhafte Ausschnitte aus der Hamburger Kunstszene, aber auch Inspirationsausstellungen wie „twen“ oder demnächst die Übernahme des politischen Comicmalers Erro. Der Clou der laufenden Ausstellung unter dem Titel „Punch in out“ ist ein Video von Christian Jankowski, das im Ungers-Bau gedreht wurde. Eingeleitet mit einem grotesken erzählerischen Vorspann, zeigt der Film einen Zehnjährigen, der Schneedes populistische Kunstinterpretation wörtlich wiederholt und gestisch persifliert. Das Kunsthaus hat deutlich mehr Besucher als der Kunstverein, den sein Leiter Stephan Schmidt-Wulffen ungerührt in Richtung unverständlich steuert. Es gelingt im Kunstverein selten, den großen Ecksaal der Markthalle sinnlicher aussehen zu lassen als den Infosaal eines politischen Kongresses. Für beide Institutionen endet übrigens der gemütliche Teil des Tags um 16 Uhr mit den ersten Soundchecks von nebenan. Rock ist in Hamburg Geschichte.

Geographisch und strukturell der Antipode zur Kunsthalle sind die Deichtorhallen: zwei ehemalige Großmarkthallen, die mit erheblichem Aufwand restauriert worden sind. Im großen Gebäude finden in der Regel mehrere Ausstellungen parallel statt; in der kleinen Halle hat Zdenek Felix, der Direktor, sehr homogene monographische Ausstellungen gezeigt (Ilya Kabakov, Ian Hamilton Finlay, Cindy Sherman, Louise Bourgeois). Er sieht die Deichtorhallen als „Fabrik, die kulturelle Dienstleistungen anbietet“; vergleichbare Institutionen hat sonst nur Frankfurt mit der Schirn und München mit dem Haus der Kunst. Felix hat mehrere private Sammlungen mit Erfolg unter die Augen der Öffentlichkeit gebracht, auch so exotische wie die von Wilhelm Schürmann. Es geht immer, grob, um die Kunst und Fotografie der letzten fünfzig Jahre. Vor allem sollen klare Handschriften sichtbar sein: von Künstlern, Sammlern, Kuratoren.

Die Hamburger „Kunstmeile“ ist eine bescheidene Metapher. Wer alles sehen will, inklusive der Porzellansammlung des Museums für Kunst und Gewerbe, muß mehr als einen Tag einplanen und allein rund fünfzig Mark an Eintrittsgeldern aufbringen. Die Kunstmeile hat den Vorteil, daß die Bürger mit ihr gewachsen sind. Sie ist nicht das kommerzielle Überbleibsel einer feudalen Zeit. Das ist zu spüren. Der Austausch ist stark; Desinteresse nicht zu verschmerzen.

Anders als in der Musik, wo der Riß zwischen Klassik (Wiederholung des Repertoires) und Pop nicht zu kitten ist, bleibt der Durchgang in der Kunst noch offen. Zu denken gibt, daß die moderne Kunst in der zweckentfremdeten Deichtorhalle atmet, in der für sie erdachten „Galerie der Gegenwart“ aber zu erstarren droht. Der Durchmarsch der Subversion hat gewiß seine dunklen Seiten.

Zur Geschichte der Kunsthalle: Uwe M. Schneede, Helmut R. Leppien (Hrsg.): „Die Hamburger Kunsthalle, Bauten und Bilder“. Seemann Verlag, Leipzig, 98 Mark. Zum Neubau: Claudia Herstatt: „Hamburger Kunsthalle – Galerie der Gegenwart“. Cantz Verlag, Stuttgart, 32 Mark. Eröffnung der Kunsthalle am 23. Februar. „Punch in out“ im Kunsthaus, Klosterwall 15, bis zum 9.März