Eine Geste des „guten Willens“

Polnische NS-Opfer erhalten 5,52 Mark Entschädigung pro Monat KZ-Haft. Und das mit Wissen und Billigung der Bundesregierung  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Die Hände von Anna zittern, als sie den lang erwarteten Brief öffnet. Vorsichtig zieht sie den Scheck aus dem Umschlag. „Zehn Zloty“, flüstert sie fassungslos, „zehn Zloty und dreißig Groschen.“ Die Demütigung bricht in einem hysterischen Schrei aus ihr heraus: „Zehn Zloty! Absender: Stiftung für deutsch-polnische Versöhnung.“

Die alte Frau preßt die Lippen aufeinander. Vor über fünfzig Jahren war die damals Neunjährige mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Auschwitz gekommen. Die Nazis vermuteten den Vater der kleinen Anna bei den Partisanen. Nachdem die SS ihn bei einer Straßenrazzia erschossen hatte, kamen Mutter und Tochter wieder frei.

Einen Monat KZ-Haft kann Anna heute nachweisen. Sie hat die Dokumente besorgt, einen Fragebogen ausgefüllt, sich beraten lassen, mit Leidensgefährten gesprochen. Die „Hilfe“, die die über 60jährige nun in Händen hält, ist ausdrücklich keine Entschädigung von deutscher Seite, sondern eine „Geste des guten Willens“: Zehn Zloty, das sind nach heutigem Kurs 5,52 Mark. Vor zwei Jahren hatte Anna P. eine einmalige „Hilfe“ der Stiftung in Höhe von knapp 20 Mark bekommen. Als sie von der Nachzahlung erfuhr, erwartete sie eine wesentlich höhere Summe.

Andrzej Budzinski, langjähriger Museumsleiter des ehemaligen Warschauer Gestapo-Gefängnisses Pawiak und seit 1994 Vorsitzender der Stiftung deutsch-polnische Versöhnung, erklärt: „Die Summen, die wir auszahlen, sind alle lächerlich niedrig, insbesondere wenn man sie mit den Beträgen vergleicht, die für im Westen lebende NS-Opfer ausgezahlt werden. Die Bundesregierung wußte dies, als sie 1991 die Stiftung mit nur 500 Millionen Mark ausstattete. Damals definierten die Deutschen auch gleich die Bedingungen, die die Opfer erfüllen müssen, um in den Genuß der Hilfe zu kommen. Die 10 Zloty 30 sind vertraglich festgelegt. Es ist die niedrigste Summe, die wir zur Zeit auszahlen. Anspruchsberechtigt ist die Opfergruppe vier. In diesem speziellen Fall: Kinder, die einen Monat in einem Konzentrationslager waren und dies auch nachweisen können.“

Bis heute sind bei der Stiftung über 700.000 Anträge eingegangen, 666.000 wurden bereits entschieden, davon über 75 Prozent positiv. Möglicherweise hatte die Bundesregierung damit gerechnet, daß die polnisch verwaltete Stiftung so arbeiten würde wie die „Härtefonds“ in Deutschland. Dort werden 80 Prozent aller Anträge abgelehnt. Bereits 1994 waren die 500 Millionen Mark ausgegeben. Die Stiftung hatte aber freie Finanzmittel bei polnischen Banken angelegt, Wertpapiere gekauft und insgesamt noch einmal 350 Millionen Mark erwirtschaftet, die nun in einer großen Nachzahlungsaktion ausgegeben werden.

Rechtsanwalt Miroslaw Podsiadlo, der 700.000 „vom Dritten Reich geschädigte Polen“ vertritt, hält den Deutschen vor, insbesondere die polnischen Zwangsarbeiter von 1939 bis 1945 noch immer wie „Untermenschen“ zu behandeln. „Die Summen, die wir erhalten, sind erbärmliche Almosen. In Amerika hat jetzt eine Gruppe von zwölf gebürtigen Osteuropäern 3,2 Millionen Mark Entschädigung aus Deutschland bekommen. Für sie hat sich Bill Clinton persönlich bei Kanzler Kohl eingesetzt. Aber Polen, die ihre Staatsbürgerschaft behalten haben und weiterhin in Polen leben, erhalten nur eine einmalige sogenannte humanitäre Hilfe in Höhe von bestenfalls 1.000 Zloty (552 Mark). Das nennt sich dann Versöhnung.“

Die polnische Regierung, die seit 1953 mehrfach auf weitere Reparationen aus Deutschland verzichtet hatte, verstand darunter nur die Entschädigung von materiellen Verlusten. Deutschland interpretierte das „allgemein anerkannte“ Völkerrecht über 50 Jahre lang anders. Danach seien individuelle Ansprüche von Zwangsarbeitern ausschließlich im Rahmen von staatlichen Forderungen einzutreiben. Im Mai letzten Jahres entschied des Bundesverfassungsgericht, daß dem keineswegs so sei. Vielmehr gebe es gerade für Zwangsarbeit eine „Anspruchsparallelität“, die völkerrechtliche Forderungen (von Staat zu Staat) als auch privatrechtliche (vom Individuum zum Staat) zulasse.

„Wir sind alt, wir sind krank, wir sterben aus“, resümiert Podsiadlo bitter. „Wer von uns soll jetzt noch einen Prozeß in Deutschland anstrengen?“ Er strebt eine politische Lösung an, die die polnischen Zwangsarbeiter endlich auch materiell den französischen oder italienischen gleichstellt. Außerdem erwartet Podsiadlo die moralische Anerkennung der polnischen Zwangsarbeiter als NS-Verfolgte.

Bislang hat die Bundesregierung sich geweigert, die Behandlung der Polen im Dritten Reich als „Untermenschen“ als spezifisch nationalsozialistisch anzuerkennen. Die diskriminierenden Abzeichen, die die Polen tragen mußten, das Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, KZ oder Todesstrafe für „Rassenschande“, Zwangsabtreibungen bei polnischen Arbeiterinnen – darüber wollte man in Deutschland nicht einmal reden. Die Diskriminierungen wurden einfach als „kriegsbedingte Maßnahmen“ klassifiziert und galten damit schlicht als „nicht entschädigungsfähig“.