Dr. Jekylls Umarmungs-Lehre

■ Maynard James Keenan, Frontman von Tool, ist ein Apostel des heilsamen Schmerzes und der magnetischen Information zur Rettung der dunklen Welt

Zu den großen Problemfeldern der Mediengesellschaft gehört zweifellos die Ästhetisierung von Gefühlen und die daraus folgende Unfähigkeit im Umgang mit realem Schmerz, Liebe, Verzweiflung. Was zum Beispiel ist Schmerz? Etwas, was sich „anfühlt wie neue Schuhe“ (Sade)? Die Tränen in Si-nead O'Connors berüchtigtem Video? Oder gar die tausendfachen, von tiefergestimmten Gitarren unterlegten Klagelieder wütender junger Männer?

Ein ganz spezieller Barde der Zerfleischung ist Maynard James Keenan, der Sänger der kalifornischen Formation Tool. Kahlgeschoren, betont höflich, dezent manisch, wirkt er wie das tiefe ewige Brodeln unter einer Maske aus fleischgewordener Kontrolle über jedwede Emotion. Im Bewußtsein der Musik seiner Band – jener elektrischen Walze aus je einem Viertel Metall und Rock und einer Hälfte Schmerz – erscheint Keenan im Gespräch wie eine Dr. Jekyll-Karikatur.

Auf dem Cover von Tools letzter Veröffentlichung verschwindet mittels 3D-Optik Kalifornien im Meer, eine Bebilderung von in den Texten ausformulierten Wünschen. Ja, Maynard Keenan ist ein öffentlicher Prediger des Untergangs, ein Erkenner, ein Enttäuschter. Die Welt von Maynard Keenan ist die Welt des Übersinnlichen, der Gedankenübertragungen, der magnetischen Felder und der großen Zusammenhänge. Keenan denkt und spricht in anderen Dimensionen. „Auf der einen Seite macht mir das Angst. Auf der anderen Seite aber berührt es mich und bringt mich dazu, weniger Schuldzuweisungen zu vertreten, als lieber Information anzubieten über globale Zusammenhänge und wohin es geht und die Einheit von allem, so daß wir auf einer übergeordneten Ebene in eine positive Richtung kommen, anstatt uns ständig neue Ziele der Schuld zu suchen. Wir haben alle Schuld.“ Amen.

Warum sich Maynard noch nicht umgebracht hat? Weil er, tief drinnen und in bester amerikanischer Tradition, ein Hippie ist, dessen praktischer Ansatz, die Welt zu retten, im Umarmen seines Nächsten liegt. Und der in Wirklichkeit gar nicht an den Weltuntergang glaubt. Denn: „Es wird Veränderungen geben, Veränderungen durch uns. Ich habe genug Sachen gelernt, um zu wissen, daß die Evolution nicht bei uns endet. Es gab so viele Kulturen vor uns, die ebenso intelligent, wenn nicht intelligenter waren und uns Botschaften hinterlassen haben, die uns ein größeres Bild zeigen. Es gibt immer wieder Perioden der Dunkelheit, in denen wir alles vergessen und in Gefahr geraten, uns zu zerstören. Wir sind an einem solchen Punkt, wo wir die Nachrichten wahrnehmen müssen. Aber ich glaube, daß wir schon aufgewacht sind. Die guten Kräfte kommen zurück – Metaphysik und weibliche Energien, während die männliche Seite von ihrer blinden, kalkulierten, linkshirnigen Position lassen muß.“

Und weil das eintreten wird, räumt er abschließend ein, daß Kalifornien gar nicht wirklich vernichtet werden muß. Da soll noch jemand an Schmerz glauben.

Holger in't Veld

Do, 20. Februar, 21 Uhr, Gr. Freiheit