"Ein Pflaster auf die Wunde"

■ Morgen wird die Reichssportfeldstraße in Flatowallee umbenannt. Stefan Flatow, Sohn des jüdischen Turn-Olympiasiegers Gustav-Felix Flatow, über den langen Kampf der Würdigung

taz: Das Oberverwaltungsgericht hat entschieden: Die Reichssportfeldstraße wird umbenannt in Flatowallee. Wie erklären Sie sich, daß es vier Jahre gedauert hat, um eine von den Nationalsozialisten benannte Straße aus dem Straßenverzeichnis zu streichen?

Stefan Flatow: Warum die Sache so langsam gegangen ist, ist mir bis heute ein Rätsel. Kein Mensch kann mir darauf eine befriedigende Antwort geben.

Viele Anwohner haben sich gegen die Umbenennung gewehrt.

Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die älteren Leute in der Straße, vor allem die über 70jährigen, in ihren Gedanken festgerostet sind. Sie haben als Vorwand angegeben, sie müßten ihr Briefpapier ändern lassen, und das fänden sie unbequem. Daß das der wahre Grund sein soll, kann ich nicht begreifen. Denn man weiß ja, was unsere Familie mitgemacht hat. Der Vater ist mit 40 Pfund in Theresienstadt verhungert, die Mutter ist mit 40 Pfund von mir nach Holland geholt worden. Ich selber habe 70 Pfund gewogen, war im KZ und habe 20 Stunden pro Tag gearbeitet. Ich hatte schon im Hinterkopf, mit diesen Leuten in der Reichssportfeldstraße selber zu reden. Denn wenn ein Mensch normal denkt, müßte er doch zu der Weisheit kommen, daß so eine Straßenumbenennung kein Nein verdient.

Haben Sie, der in Rotterdam lebt, den Eindruck, daß die Deutschen sich schwertun mit ihrer Vergangenheit?

Mein Vater machte früher immer die Bemerkung: Man kann einem Menschen wohl in die Kehle schauen aber nicht ins Herz.

Gustav-Felix Flatow und Alfred Flatow waren jüdischer Herkunft, sie waren beide 1896 Turn- Olympiasieger, sie sind beide im KZ Theresienstadt umgekommen. Nun wird ausgerechnet eine ehemalige Nazi-Straße den Namen Flatow tragen.

Daß es in Berlin so eine Initiative gab, habe ich anfangs gar nicht gewußt. Erst vor drei Jahren habe ich davon gehört, und ich war von Anfang an damit einverstanden, daß der Name Reichssportfeldstraße gestrichen und daß an jemanden erinnert wird, der von den Nazis umgebracht wurde. Zweitens finde ich es akzeptabel, daß Menschen, die Enormes geleistet haben für ihr Land, nämlich den Olympiasieg errungen haben, daß solche Menschen geehrt werden. Gut, man muß gar nichts tun. Man kann höchstens das Herz sprechen lassen.

Morgen wird die Flatowallee eingeweiht. Mit welchen Gefühlen werden Sie die Straße entlanggehen?

Es wird ein befriedigendes Gefühl sein. Es wird ein Pflaster auf eine Wunde sein. Die Geschichte unserer Familie ist eine unangenehme Geschichte – nun erfährt sie auch in Berlin einer Würdigung.

Ohne Otto Eigen, der die Initiative zur Straßenumbenennung ergriffen hat, der von Nachbarn angefeindet wurde, der letztendlich aus der Reichssportfeldstraße wegzog, wäre die Straßenumbenennung wohl nicht erreicht worden?

Ich habe den Eindruck, Otto Eigen hat sein Fleisch und Blut für die Sache gegeben. Daß er dafür beschimpft wurde, hat mir Schmerzen bereitet. Ich begreife nicht, daß es in Deutschland noch Leute gibt, die drei Gesichter haben. Interview: Jens Rübsam